Haiti: Zehn Jahre nach der Erdbebenkatastrophe - Versuch einer Bilanz
Text: Jürgen Schübelin
Der Anruf aus Duisburg kam am 12. Januar 2010, spätnachts, am gefühlt entferntesten Ort Südamerikas auf fast 4.000 Meter Höhe, im Urlaub mit der Familie im Lauca-Parinacota-Nationalpark im äußersten Nordosten Chiles. Am Telefon Dietmar Roller, damals Kindernothilfe-Vorstand für die Programm- und Projektarbeit. Er sagte nur ganz wenig: „In Haiti hat es ein schweres Erdbeben gegeben, offenbar mit Tausenden von Toten, und wir können keinen Kontakt zu unserem Team im Kindernothilfe-Büro in Port-au-Prince herstellen. Wir wissen nicht, ob die fünf Kollegen am Leben sind ... Du bist von uns allen am nächsten dran. Versuch bitte, dich dorthin durchzuschlagen…“
Leichter gesagt als getan: Am Ende gelang das nur nach einer komplizierten, langen Odyssee auf dem Umweg über die Dominkanische Republik. Das US-Militär hatte den Flughafen von Port-au-Prince wenige Stunden nach dem Beben, außer für eigene Maschinen, komplett gesperrt. Die erste komplexe Herausforderung bestand deshalb zunächst darin, ein 20-köpfiges Ärzte- und Helferteam, das mit einem AirBerlin-Sonderflug zusammen mit einer Gruppe von Journalisten und 30 Tonnen an Hilfsgütern im dominikanischen Badeort Puerto Plata gelandet war, sicher nach Haiti zu lotsen. Von dort hatten wir nach bangen 72 Stunden endlich erfahren, dass die Kollegen vor Ort am Leben waren, sich leichtverletzt aus dem kleinen Kindernothilfe-Büro, in dem eine Mauer eingestürzt war, hatten befreien können. Aber das war dann auch schon das Ende der guten Nachrichten.
Bilder, die sich für immer ins Gedächtnis einbrennen
Schweres Erdbeben trifft auf extreme Armut
Der erste Schulunterricht startete bereits einen Monat nach dem Beben
Rechnen mit Mango-Kernen
Hier kollidierten zwei Welten: Ein Staat, der in den zurückliegenden Jahrzehnten nie in der Lage gewesen war, das in der Verfassung des Landes und in zahlreichen internationalen Konventionen, die Haiti ratifiziert hatten, verbriefte Recht von Kindern auf Bildung umzusetzen und stattdessen diese Aufgabe mehrheitlich privaten Schulträgern überlies; auf der anderen Seite ein extrem starres Korsett für Lehrpläne und eine am französischen Bildungssystem orientierte Unterrichtsstruktur, die wenig Raum für Kreativität, die Stärkung sozialer Fähigkeiten der Kinder und das, was man life skills, (Über)Lebenskompetenzen, nennt, lässt. Demgegenüber wollten die Kindernothilfe und ihre Partner die historische Chance des Neubeginns nach der Katastrophe nutzen, um mit anderen Unterrichtsformen und der Einbeziehung neuer Themen - etwa zur ökologischen Nachhaltigkeit, sehr viel mehr praktischen Fertigkeiten und vor allem der Stärkung der Kinderrechte – die Mädchen und Jungen in den Projekten besser auf die Lebenswirklichkeit nach der Schule vorzubereiten.
Neue Unterrichtsformen: Schulen ohne schlagende und brüllende Lehrer
Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen im Jahr 2019
Das Erdbeben in Haiti vor zehn Jahren zeigte überdeutlich, wie extrem verletzlich und gefährdet Kinder und Jugendliche im Gefolge von derartigen Katastrophen sind und wie dringend notwendig es gerade der konsequenten Perspektive und Instrumente der Kinderrechte bedarf, um ihren Bedürfnissen und ihrem Schutz Priorität einzuräumen.
Bilanz der Kindernothilfe-Arbeit nach dem Erdbeben
Das Kindernothilfe-Engagement nach der Erdbebenkatastrophe vom 12. Januar 2010 in Haiti war der bislang größte humanitäre Einsatz in der Kindernothilfe-Geschichte. Von den zur Verfügung stehenden 17,9 Millionen Euro aus Spenden und Unterstützungsleistungen durch Kindernothilfe-Kooperationspartner flossen 14,2 Millionen in den Wiederauf- bzw. Neubau von insgesamt 13 Schulen in der Region um Port-au-Prince sowie in das Lehrerfortbildungs- und den Aufbau des Selbsthilfegruppen-Programms. 3,7 Millionen Euro hatte die Kindernothilfe während der unmittelbaren Nothilfe-Phase nach der Katastrophe für Hilfsgüter, das Child-friendly-Space- sowie das Notschulprogramm, durch das Mitte 2010 über 26.000 Kinder erreicht werden konnten, aufgewendet.
Offiziell abgeschlossen werden konnte die Wiederaufbauphase Frühjahr 2016 mit der Fertigstellung des Sekundar- und Berufsschultraktes des Collège Verena in Delmás. Ermöglicht haben all das Zehntausende von Einzelspenderinnen und -spendern, Stiftungen, Institutionen und Unternehmenspartner der Kindernothilfe in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Luxemburg in einem atemberaubenden Kraftakt, für den wir bis heute unendlich dankbar sind.