Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

„Seit wir eine Gruppe sind, hat sich uns eine neue Welt eröffnet“

Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch

Dank ihrer Selbsthilfegruppe verdient Sita Devi Ram zum ersten Mal im Leben selbst Geld, und das hat ihre Position in der Familie gewaltig verändert. Plötzlich kann sie bei Familienentscheidungen mitreden und selbst bestimmen, was eingekauft wird. Davon profitiert die ganze Familie, vor allem die Kinder. Deshalb unterstützt der Kindernothilfepartner Voice of Children Frauen im Südosten Nepals dabei, ein Einkommen zu erwirtschaften und ihre Stimme zu erheben.

Beim wöchentlichen Treffen der Gadhistan-Selbsthilfegruppe drängen sich die 16 Mitglieder unter dem Vordach des kleinen Häuschens eines ihrer Mitglieder, so dass jede Frau einen Platz im Schatten hat. Seit einem Jahr kommen sie regelmäßig zusammen, um all das zu besprechen, was wichtig ist. „Wir haben diese Gruppe gegründet, um etwas zu verändern. Aber das können wir nicht alleine, sondern nur gemeinsam schaffen“, erklärt Dhaneshwari Devi Ram, die an diesem Tag die Sprecherin der Gruppe ist. Die anderen nicken. Nur gemeinsam sind Frauen im ländlichen Nepal stark, das ist jeder von ihnen klar.

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Frauen diskutieren in ihrer Gruppe (Quelle: Christian Nusch)
"Wir können nur gemeinsam etwas verändern!", sagt Dhaneshwari Devi Ram
Frauen diskutieren in ihrer Gruppe (Quelle: Christian Nusch)
"Wir können nur gemeinsam etwas verändern!", sagt Dhaneshwari Devi Ram

Frauen erleben, dass sie etwas bewirken können

So ganz stimmt es nicht, dass die Frauen die Gruppe gegründet haben, auch wenn Raju Ghimire von Voice of Children, der lokalen Partnerorganisation der Kindernothilfe, ihnen in diesem Punkt niemals widersprechen würde. Schließlich ist es das Ziel des Projektes, dass die Frauen erfahren, dass sie selbst etwas bewirken können. Doch tatsächlich war es die Idee von Voice of Children, in den Dörfern die Frauen zusammenzubringen, die am meisten von Armut betroffen sind – nach einem Konzept, das die Kindernothilfe gemeinsam mit einem indischen Experten entwickelt hat. Das sind rund im Sunsari-Distrikt im Südosten Nepals, wo das Kastenwesen noch immer eine große Rolle spielt, hauptsächlich Frauen aus der Kaste der Dalits. Sie sind gleich zweifach benachteiligt. Schon als Mädchen haben sie sich daran gewöhnt, dass sie ihren Brüdern und später ihrem Mann zu gehorchen haben. Und als Angehörige der untersten Gesellschaftsschicht sind sie in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass arm zu sein nun mal ihr Schicksal sei und es ihnen nicht zustehe, sich zu wehren. „Ihr Selbstbewusstsein ist unglaublich gering, sie haben nie gelernt, ihre Bedürfnisse zu äußern, nie die Erfahrung gemacht, dass sie etwas bewirken können“, meint Raju Ghimire. „Unser Ziel ist es, sie zu stärken, denn starke Frauen können sich besser um ihre Kinder kümmern und für sie eintreten als Unterdrückte.“ 

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Ein Mitarbeiter des Kindernothilfe-Partners spricht mit Frauen einer Selbsthilfegruppe (Quelle: Christian Nusch)
Raju Ghirmire vom Kindernothilfepartner Voice of Children bleibt mit den Frauen in Kontakt
Ein Mitarbeiter des Kindernothilfe-Partners spricht mit Frauen einer Selbsthilfegruppe (Quelle: Christian Nusch)
Raju Ghirmire vom Kindernothilfepartner Voice of Children bleibt mit den Frauen in Kontakt

In Nepal nicht selbstverständlich: eine Toilette für jede Familie

In den wöchentlichen Treffen der Selbsthilfegruppen geht es zuallererst darum, dass die Frauen erleben: Man hört ihnen zu, wenn sie ihre Meinung sagen. Sie können ihre Probleme schildern und werden damit ernst genommen. Und sie erfahren von der Sozialarbeiterin von Voice of Children, dass sie und ihre Kinder Rechte haben. Zum Beispiel das Recht auf Bildung. Uns mag das selbstverständlich erscheinen, doch kaum eine der Frauen in den Selbsthilfegruppen ist zur Schule gegangen und kann lesen und schreiben. Auf die Idee, dass sie das Recht gehabt hätten, es zu lernen, sind sie nie gekommen. „Seitdem wir wissen, dass Bildung ein Kinderrecht ist, haben wir uns das Ziel gesetzt, unsere Kinder zur Schule zu schicken“, sagt Daneshwari Devi Ram und nennt gleich noch ein weiteres Ziel: Alle Mitglieder sollen eine Toilette bekommen. Dass die für die Gesundheit der Familie wichtig sind, wissen die Frauen erst, seit sie mehr über den Zusammenhang von Hygiene und Krankheiten gehört haben. Gesunde Ernährung steht auch auf dem Zettel. Dass es nicht reicht, einfach den Magen mit Reis zu füllen, haben die Frauen vorher einfach nicht gewusst.

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Eine Frau mit ihrer Enkelin und einem Rikscha-Fahrer (Quelle: Christian Nusch)
Patasi Ram (60)
„Ich habe mir von derFrauengruppe 12 Euro geliehen. Dieser Betrag fehlte mir noch, um eine neue Secondhand-Batterie für die Rikscha meines Sohnes zu kaufen. Die alte war kaputt, plötzlich fehlte die Hälfte unseres Familieneinkommens. Ich bin stolz, dass ich dazu beitragen konnte, dass wir wieder ein stabiles Einkommen haben.“

Notgroschen werden nicht mehr in Alkohol umgesetzt

Doch Unwissenheit ist nur ein Grund dafür, dass diese Mütter sich nicht so um ihre Kinder kümmern können, wie es nötig wäre. „Das Hauptproblem ist, dass diese Familien bitterarm sind. Selbst wenn sie es wollen, können sie oft ihre Kinder nicht zur Schule schicken, weil das Geld für Schulmaterialien fehlt oder weil sie darauf angewiesen sind, dass sie mitverdienen.“ Die Antwort, die Voice of Children darauf gefunden hat, ist einfach: sparen. „Wir bringen den Frauen bei, wie sie einen Überblick über die mageren Finanzen der Familie behalten und Ausgaben reduzieren können. Und wir geben ihnen die Möglichkeit, Geld zur Seite zu legen.“ Noch so eine Sache, die uns natürlich erscheint, für eine Frau in einem nepalesischen Dorf aber meistens einfach nicht möglich ist. Weil es dort keine Banken gibt, können sie ihre Notgroschen nur irgendwo im Haus verstecken, wo sie nicht selten von ihren Männern gefunden und in Alkohol umgesetzt wurden. Doch bei der Selbsthilfegruppe hat jedes Mitglied ein eigenes Konto, auf dem jede Rupie, die nicht gebraucht wird, zurückgelegt werden kann. Der erfreuliche Nebeneffekt: Die Männer trinken weniger, was wiederum dazu führt, dass es weniger Gewalt gibt.

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Nepal - eine Frau mit ihrer Tochter und einer Ziege (Quelle: Christian Nusch)
Phulo Devi Ram (34)
„Ich habe mir acht Euro von dem Konto unserer Gruppe geliehen, um eine Ziege zu kaufen. Sie ist jetzt trächtig, und bald werde ich ein, vielleicht sogar zwei Zicklein haben, die ich verkaufen kann. Mit dem Geld will ich das Dach meiner Hütte reparieren, damit es nicht mehr reinregnet.“ 

Kleine Beiträge, die ein Leben verändern können

Es existiert noch ein zweites Konto: Eine Kasse, in der die Frauen gemeinsam sparen. „Bei jedem Treffen zahlt jedes Mitglied einen festgesetzten Betrag ein. Aus diesem Topf können sich die Frauen dann gegenseitig Darlehen geben“, erklärt Raju Ghimere. Die Summen, um die es dabei geht, erscheinen aus deutscher Sicht winzig. Die Ersparnisse, die die Gadhistan-Selbsthilfegruppe in dem einen Jahr ihres Bestehens zusammengebracht hat, belaufen sich umgerechnet auf gerade mal 100 Euro. Das ist der Topf, aus dem die fünf Euro kommen, die es für eine Legehenne braucht. Oder die acht Euro für ein weibliches Zicklein, sodass die Frauen eine kleine Zucht aufbauen können. Ein Zuschuss von sieben Euro für einen medizinischen Notfall oder sechs für eine Schuluniform, damit das Kind weiter zur Schule gehen kann. Es sind kleine Beträge, die ein Leben retten oder verändern können, und diese Beträge sind keine Almosen, sondern eigenes, gemeinsam erspartes Geld, von dem jede der Frauen profitiert.

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Eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß (Quelle: Christian Nusch)
Die 17-jährige Sujita Yadab mit ihrem zweijährigen Sohn
Eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß (Quelle: Christian Nusch)
Die 17-jährige Sujita Yadab mit ihrem zweijährigen Sohn

Mit 13 Jahren Ehefrau, mit 15 Jahren Mutter

„Ich war 13 Jahre alt, als ich verheiratet wurde", erzählt Sujita Yadab. "Meine Mutter war krank, sie hatte Angst, dass sie stirbt, und wollte mich vorher sicher untergebracht wissen. Aber sie lebt immer noch. Ich wünschte, sie hätte nicht darauf bestanden, dann könnte ich heute noch zur Schule gehen. Die Frauengruppe ist sehr wichtig für mich. Ich lerne dort viel, was ich vorher nicht wusste, über Ernährung, Hygiene und Haushalten. Vor allem kann ich dort Freundschaften schließen und fühle mich nicht mehr so alleine wie vorher, als ich die meiste Zeit im Haus verbrachte.

Mein Mann wollte zuerst nicht, dass ich Mitglied der Selbsthilfegruppe werde, er hielt das für Zeitverschwendung. Aber seit ich einen kleinen Kredit bekam, mit dem ich alles kaufen konnte, was ich brauchte, um Schneidern zu lernen, ist er einverstanden, dass ich an den Treffen teilnehme. In der Gruppe sprechen wir auch viel über Kinderrechte, und ich weiß jetzt, dass es falsch war, dass ich so früh verheiratet wurde. Wenn ich einmal eine Tochter habe, werde dafür sorgen, dass sie mindestens 20 Jahre alt ist, wenn sie heiratet.“


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Mutter mit ihrem Sohn in Schuluniform
Sarita Ram (29)
„Ich war 13, als ich verheiratet wurde, Mein Mann ist gestorben. Mein Sohn Sodoj geht in die 9. Klasse. Kinder einer alleinerziehenden Tagelöhnerin gehen sonst nicht zur Schule. Aber ich tue alles, damit er seinen Traum, Arzt zu werden, erfüllen kann. Als ich kein Geld für seine neue Schuluniform hatte, konnte ich mir von der Frauengruppe sechs Euro leihen. Jetzt ist sein Schulbesuch gesichert."

„Mein Recht gegenüber meinem Ehemann“

Die Mikrokredite lindern nicht nur die Not und verhelfen zu einer Zukunft, sondern sie ermöglichen es den Frauen, überhaupt Mitglied in dieser Gruppe zu sein. „Am Anfang war mein Mann dagegen, dass ich bei dieser Gruppe mitmache“, erinnert sich Sita Devi Ram. „Er fand, das sei Zeitverschwendung, wo ich doch auf dem Feld oder im Haus arbeiten könnte. Aber dann habe ich meinem Mann erzählt, was ich hier alles lerne.“ Die 25-Jährige grinst, als sie erwähnt, dass sie dabei zunächst das Thema „Mein Recht gegenüber meinem Ehemann“ nicht besonders betonte und stattdessen mehr von Haushaltsführung und Sparplänen sprach. „Eines Tages habe ich dann vorgeschlagen, dass ich einen Kredit aufnehme, um einen Warengrundstock für einen kleinen Laden zu kaufen. Er konnte kaum glauben, dass ich durch die Frauengruppe diese Möglichkeit habe.“ Seither hat Sita Devi Ram ein eigenes kleines Einkommen, und das hat ihre Position in der Familie gewaltig verändert. Plötzlich hat sie bei Familienentscheidungen ein Mitspracherecht und ein Budget, mit dem sie selbstständig das einkaufen kann, was gebraucht wird. „Im vergangenen Winter haben meine Kinder gefroren, weil sie keine Jacken und feste Schuhe hatten. Diesen Winter konnte ich das für sie anschaffen.“ Ihr Erfolg hat sich im Dorf herumgesprochen, inzwischen sehen die Männer, dass nicht nur ihre Frauen, sondern alle von den Selbsthilfegruppen profitieren. 560 Familien konnte Voice of Children seit der Gründung des Projektes mit seinen 28 Selbsthilfegruppen erreichen. Das sind rund 1.700 Menschen, deren Leben mit vergleichsweise geringem Aufwand eine neue Wendung nahm.

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Eine Frau mit ihrem Sohn vor einem Kiosk (Quelle: Christian Nusch)
Seit Sita Devi Ram selbst Geld verdient, hat sich ihre Position in der Familie gewaltig verändert
Eine Frau mit ihrem Sohn vor einem Kiosk (Quelle: Christian Nusch)
Seit Sita Devi Ram selbst Geld verdient, hat sich ihre Position in der Familie gewaltig verändert

Frauen mit nie gekanntem Selbstbewusstsein

Ohne die Gemeinschaft der Selbsthilfegruppe hätte Sita sich nirgendwo Geld leihen können, um einen Laden aufzumachen. Und Dhaneshwari Devi Ram hätte niemals den Mut gehabt, in die Schule zu gehen und mit dem Lehrer darüber zu sprechen, dass sie das Gefühl habe, eines ihrer Kinder werde nicht gerecht behandelt. „Zu einer Autoritätsperson zu gehen, das habe ich mich früher nicht getraut, sondern einfach alles so hingenommen, wie es war.“ So resolut, wie Daneshwari inzwischen auftritt, ist das schwer vorstellbar. Aber ja, so sei es gewesen, versichert sie. „Seit wir eine Gruppe sind, hat sich uns eine ganz neue Welt eröffnet. Ich bin nicht mehr einfach einer einzelne Frau, sondern Teil eines Gremiums, das um seine Rechte weiß und sie einfordert.“

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Katharina Nickoleit interviewt ein kenianisches Mädchen
Katharina Nickoleit ist freie Journalistin, ihr Partner Christian Nusch Fotograf. 
Die beiden haben bereits viele Reportagen aus unseren Projekten mitgebracht.

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