Indien: Der Hunger ist größer als die Angst vor Corona
Text: Mayuri Datta, Gunhild Aiyub, Fotos: Josephine Vossen, Kindernothilfe-Partner
Rauchschwaden ziehen über endlose Müllberge, der Gestank ist unerträglich. Kinder staksen in Flipflops über die Abfälle eine der größten Müllhalden Delhis – mit großen Säcken, in die sie Metall, Glas und Lumpen stopfen. Ihre Augen tränen vom Rauch, an Füßen und Händen zeugen Narben von den Verletzungen, die sie sich an Glasscherben oder scharfen Metallkanten zugezogen haben. Eine menschenunwürdige Art, Geld zu verdienen. Aber für viele Familien in Bhalswa, einen Slum der Hauptstadt Delhi, macht sie den Unterschied zwischen Überleben und Verhungern aus. Dann kam Corona – und der von der indischen Regierung verhängte weltweit größte Lockdown für 1,3 Milliarden Menschen. Familien, die ohnehin schon von der Hand in den Mund lebten, blieben mit leeren Händen zurück.
Bisher 2,8 Millionen Corona-Infizierte, 2,0 Millionen Genesene, 53.000 Todesfälle: So lautete Indiens Statistik Mitte August. Indien steht damit weltweit an 3. Stelle in der Reihe der Länder, die am schlimmsten von COVID-19 betroffen sind. Dabei hatte die indische Regierung bereits am 25. März die Notbremse gezogen und das öffentliche Leben zum Stillstand gebracht. Die Menschen durften nur für Lebensmittel, Medikamente und bei Notfällen vor die Tür, trotzdem stieg die Zahl der Ansteckungen stetig. Zehntausende Wanderarbeiter versuchten, aus den Städten in ihre Heimatdörfer zu gelangen, und sorgten für eine Verbreitung des Virus bis in die hintersten Winkel des Landes. Mehr als 140 Millionen Menschen verloren bisher ihren Arbeitsplatz, unzählige kämpfen ums Überleben. Rund 90 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im informellen Sektor – wie die Familien auf der Müllhalde von Bhalswa: Das heißt, sie haben keinen Arbeitsvertrag, keinerlei Absicherung
Wird der Ansturm zu groß, hilft die Polizei bei der Verteilung
„Tagelöhner, Müllsammler, Hausangestellte, Rikscha-Fahrer, Bauarbeiter, Migranten, Straßenverkäuferinnen und viele andere, deren Lebensunterhalt von einfachen Tätigkeiten abhängt, sind besonders von dem Lockdown betroffen“, weiß Pater Santosh, Direktor des Kindernothilfe-Partners Deepti Foundation in Bhalswa. „Die meisten Familien hier gehören dazu. Sie haben keine Ersparnisse. Was sie verdienen, geben sie für den täglichen Bedarf aus. Im Dairy-Slum neben der Müllhalde unterstützten wir rund 1.900 Familien mit Lebensmittelpaketen. Eine fünfköpfige Familie zum Beispiel erhält für rund zehn Tage Reis, Weizenmehl, Hülsenfrüchte, Öl, Zucker und Salz. Im April haben wir außerdem 5.000 Masken verteilt.“
Er und seine Mitarbeitenden sind zu einer Verteilstelle gefahren, das Auto vollgepackt bis unters Dach mit Lebensmitteln. Die Nachricht über ihre Ankunft verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Pater Santosh und seine Leute sind der einzige Lichtblick für die Einwohner von Bhalswa-Dairy. Es sind hauptsächlich Frauen gekommen, die sich die schweren Säcke mit Reis und Mehl auf den Kopf hieven lassen. Glücklich ziehen sie mit ihrer Last von dannen. Das Gedränge wird größer. „Der Mindestabstand bei der Verteilung ist eine große Herausforderung, da die Menschen sich zu Hunderten versammeln“, sagt Pater Santosh. Wird der Ansturm zu groß, hilft die Polizei bei der Verteilung. Und wann immer Polizisten mitbekommen, dass jemand hungert, informieren sie Pater Santosh. Deepti hat für die Versorgung der Armen extra eine Ausgangsgenehmigung bekommen.
"Es ist schlimmer gekommen, als wir gedacht haben"
Arbeitslosigkeit und Hunger treffen nicht mehr nur die Ärmsten, sondern selbst die städtische Mittelschicht. „Wir verteilten gerade Lebensmittelpakete, da kam ein Mann auf einem Motorrad angefahren und bat um eines davon“, erinnert sich Pater Santosh. „Ich fragte ihn, wieso er kein Geld für Lebensmittel hätte, wenn es doch zum Tanken reichte. Der Mann brach in Tränen aus und sagte: ‚Vater, ich bin mit den letzten Tropfen Benzin im Tank hierhergefahren. Ich bin in einer schrecklichen Lage! Mein sozialer Status erlaubt es mir nicht, zu betteln oder um Hilfe zu bitten.‘ Natürlich habe ich dem armen Kerl ein Paket gegeben.“
Fünfmal wurde der Lockdown bereits verlängert – bisher mit wenig Erfolg. Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage vieler Familien hat die Regierung schon Mitte Mai die ersten Lockerungen außerhalb der Hochrisikogebiete beschlossen, um Tausende von Hungertoten zu vermeiden. Auch wenn dies auf Kosten der Gesundheit geht und die Zahlen der Infizierten jetzt noch stärker steigen. Hotels, Restaurants, Einkaufszentren, Friseure, Fitnessstudios sind wieder geöffnet. „Wir haben damit gerechnet, dass die Zahlen hochgehen“, gab Delhis Regierungschef Arvind Kejriwal Ende Juni zu, „aber es ist viel schlimmer gekommen, als wir dachten.“ Einige Regionen, darunter die Millionenstädte Mumbai und Chennai, wollen die Lockerungen mittlerweile wieder zurückfahren.
Prashant macht sich Sorgen, weil seine Mutter das geliehene Geld nicht zurückzahlen kann
Jehangirpuri, der Nachbarstadtteil von Bhalswa-Dairy, zählt zu den schlimmsten Corona-Hotspots in der Hauptstadt. Trotzdem ist auf der Müllhalde wieder der Alltag eingekehrt. Die Kühe, die die Hügel mit stinkendem Unrat lange Zeit für sich allein hatten, müssen sie sich wieder mit den Müllsammlern teilen. Die meisten hätten ihre Arbeit wieder aufgenommen, sagt Pater Santosh. Die Verzweiflung, die Familien nicht ernähren zu können, sei größer als die Angst vor einer Ansteckung.
Das Virus bedroht Kinder, die ohnehin schon durch Armut, Krankheit und Hunger geschwächt sind
„Die Regierung muss daher sicherstellen, dass die Armen nicht im Stich gelassen werden“, fordert Mayrui Datta. „Für die Menschen in den Slums und in den Dörfern kann auch eine verlängerte Abriegelung ein Gesundheitsrisiko sein: Sie leben auf engstem Raum zusammen, und viele haben noch nicht einmal rund um die Uhr Wasser. Wie können wir von einem Kind erwarten, dass es sich die Hände wäscht, wenn es nicht einmal genug Wasser zu trinken hat? Dieses Virus bedroht Kinder, die ohnehin schon durch Armut, Krankheit und Hunger geschwächt sind. Die Vereinten schätzen, dass innerhalb von sechs Monaten weltweit bis zu 10.000 Kinder
pro Tag sterben könnten – Indien gehöre dabei zu den zehn am meisten betroffenen Ländern.“