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Afghanistan: Eine Familie auf der Flucht

Text: Ann-Cathrin Coenen, Fotos: Ralf Krämer

Khalida Hafizi war seit 2007 Kindernothilfe-Koordinatorin für Frauenselbsthilfegruppen in Afghanistan. Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 mussten fast alle Partner ihre Projekte stoppen. Das Leben war und ist für viele Mitarbeitende nicht mehr sicher. Ihre Arbeit für Frauen- und Kinderrechte war den Taliban von Beginn an ein Dorn im Auge. Auch für Khalida und ihre Familie begann eine Zeit voller Todesangst. Nach monatelangem Bangen und Verstecken gelang es der fünffachen Mutter, am 1. Januar 2022 über Pakistan nach Deutschland zu fliehen.

„Mir und meiner Familie geht es jetzt gut“, sagt Khalida, als sie zu einem Besuch in die Kindernothilfe-Geschäftsstelle kommt. Seit fast einem Jahr ist sie nun mit einem Teil ihrer Familie in Deutschland, gemeinsam mit ihren beiden Söhnen (18 und 29 Jahre), ihrer Schwiegertochter (30) und ihrer Tochter (20). Die fünf leben in einer Wohnung in Hessen, ihre beiden jüngeren Kinder konnten gerade einen Sprachkurs beginnen. Ihr Sohn und die Schwiegertochter lernen ebenfalls bereits Deutsch, Khalida selbst wartet noch auf einen freien Platz.

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Eine Mutter mit zwei Söhnen und zwei Töchtern (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)
Khalida ist froh, dass ihre Kinder bereits mit dem Deutschlernen starten konnten (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)
Eine Mutter mit zwei Söhnen und zwei Töchtern (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)
Khalida ist froh, dass ihre Kinder bereits mit dem Deutschlernen starten konnten (Quelle: Ralf Krämer/Kindernothilfe)

Eine ganz normale Familie

Dabei waren sie in Afghanistan eine normale Familie, wie es die 55-Jährige beschreibt. Sie und eine der beiden Töchter haben für internationale Organisationen gearbeitet, die andere Tochter ist Ärztin und lehrte an Universitäten. Alle sind aus ihrer Heimat geflohen, heute leben sie über drei Länder auf zwei Kontinenten verteilt und können sich nicht besuchen. „Innerhalb von Europa darf ich verreisen, aber nicht in die USA zu meinem Mann oder nach Kanada zu meinen Töchtern. Dafür müssen wir erst noch einige Verwaltungshürden überwinden“, erklärt Khalida.

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Ihr Mann hatte bereits früh nach der Machtübernahme die Chance, das Land zu verlassen und in die USA zu fliehen. „Wir waren sehr froh darüber, dass er so schnell evakuiert werden konnte. Obwohl er gleichzeitig sehr traurig darüber war, sein Land und seine Familie verlassen zu müssen“, so Khalida. „Er hat sich große Sorgen um mich gemacht, da ich ja vorher zu Frauenrechten und Genderthemen gearbeitet habe“. Die Tochter, die bei einer internationalen Nichtregierungsorganisation arbeitet, konnte mit deren Hilfe zunächst nach Nord-Mazedonien, dann weiter nach Kanada fliehen. Die Ärztin schaffte es, ebenfalls nach Kanada zu flüchten, dort kann sie gut arbeiten, da sie die Sprache kennt. Khalidas Mutter und ihre Schwester befinden sich noch immer in der Heimat.

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Kein normales Leben in Afghanistan

Für die Menschen in Afghanistan sei aktuell kein normales Leben möglich. Besonders Mitarbeitende von internationalen Organisationen, die vor der Machtübernahme zu Genderthemen, Frauen- und Kinderrechten gearbeitet haben, würden von den Taliban enorm unter Druck gesetzt. „Häufig erhalten sie nur Arbeitsverträge für drei Monate, ohne zu wissen, wie es danach weitergehen wird“, berichtet Khalida. „Das ist sehr belastend für die Menschen.“

Sie selbst habe alle Möglichkeiten genutzt, die sich boten, um das Land zu verlassen. Nachdem ihr Mann und die beiden Töchter weg waren, mussten auch Khalida und die verbliebenen Kinder flüchten. „Wir waren nicht mehr sicher, die Taliban kamen in unser Haus und nahmen all unsere Besitztümer mit. Wir sind in Kabul ständig von einer Wohnung eines Verwandten oder Freundes zur nächsten gezogen, um uns in Sicherheit zu bringen. Es gab überall Explosionen in der Stadt und viele Menschen wurden getötet“, berichtet Khalida über die Zeit kurz nach der Machtübernahme. Als sie wieder einmal mit ihrem jüngsten Sohn und der Tochter unterwegs war, um erneut die Unterkunft zu wechseln, wurden sie von einem Taliban-Mitglied verfolgt. Durch die Fahrkünste ihres Sohnes gelang es, den Verfolger abzuschütteln. Sie sei in Tränen ausgebrochen, als sie endlich wieder in Sicherheit waren, erzählt die Mutter.


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Die Taliban sind sich in vielen Fragen nicht einig

Im Vergleich zur ersten Machtübernahme der Taliban im Jahr 1996 habe sich in Afghanistan einiges verändert, meint Khalida. Die Frauen seien in einer viel stärkeren Position und hätten mehr Selbstbewusstsein, was auf die Arbeit der Regierung für Frauenrechte und viele internationale Organisationen im Land zurückzuführen sei. „Die Frauen sind gestärkt, ihr Leben wurde positiv beeinflusst“, sagt die 55-Jährige. Zudem seien sich die Taliban untereinander in vielen Fragen nicht einig. Eine Gruppe hätte nichts gegen Bildung für Frauen einzuwenden, während andere, sehr fundamentale Mitglieder, das kategorisch ablehnten. „Es gibt unter ihnen Konflikte, das ist auf die Stärkung der Frauen zurückzuführen. Wir werden sehen, wie die Frauen in Afghanistan reagieren werden“, berichtet Khalida, die selbst an der Universität Kabul sozialwissenschaftliches Recht sowie öffentliche Ordnung und Verwaltung studiert hat.
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Für die beiden jüngeren Kinder war es hart

Als die Familie nach einem gescheiterten ersten Fluchtversuch dann am 1. Januar 2022 Afghanistan endlich verlassen konnte, blieb sie zunächst 23 Tage in Pakistan. Anschließend reisten sie weiter nach Deutschland. Hier lebt schon seit vielen Jahren ein Großteil der Familie. Nach einem kurzen Aufenthalt in Viersen kamen sie nach Bayern in ein Lager für Geflüchtete, bis sie schließlich eine Wohnung in Hessen fanden. Erst mit einer festen Bleibe konnten sie sich in Deutschland registrieren und alle notwendigen Verwaltungsprozesse starten.

„Das Leben im Lager war eine ganze neue Erfahrung“, gibt Khalida zu. “Natürlich waren wir froh, dass wir sicher waren. Für mich war es okay, ich habe meine Erfahrungen gemacht, Probleme und Herausforderungen im Leben gemeistert. Aber besonders für meine beiden jüngeren Kinder war es hart. Wir haben viel darüber gesprochen, dass es in Ordnung ist, frustriert zu sein, und dass es gerade vielen Menschen aus Afghanistan so geht.“ Besonders belastend sei es für die Familie, nicht zusammen sein zu können, verrät sie.


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Langfristig will die Familie zusammenleben

Es gibt sehr viele neue Probleme, mit denen sie umgehen müssen. Sie sei immer wieder dabei, neue Wege zu finden, diese zu lösen, erzählt die 55-Jährige. Eine der ersten Fragen, die sie sich bei ihrer Ankunft in Deutschland stellte, war: „Wie kann ich wieder arbeiten?“ Die Afghanin ist noch immer daran interessiert, mit Frauen und Kindern zu arbeiten. Da sie aber noch keinerlei Deutschkenntnisse hat, ist es schwierig für sie, etwas zu finden. Wie es für sie in Deutschland weitergeht, ist noch unsicher. „Meine Familie und ich sind der Kindernothilfe sehr dankbar für die Unterstützung und den Einsatz in dieser schwierigen Zeit“, so Khalida.

Und auch, wenn sie sich noch nicht besuchen können, steht für die Familie fest: Sie werden langfristig wieder zusammenleben. „Denn als eine Familie müssen wir zusammen sein“, sagt Khalida bestimmt.

 

Die Kindernothilfe ist seit 2002 in Afghanistan tätig. Bis August 2021 lag der Schwerpunkt der fünf Projekte vor allem auf Bildung – besonders für Kinder mit Behinderungen. Ein Projekt förderte die Friedenserziehung und eröffnete jungen Menschen eine neue Welt durch Kinderliteratur. Selbsthilfegruppen stärkten Frauen, Kinder und Gemeinden. Rund 44.200 Mädchen und Jungen profitierten von der Arbeit.

Nach der Machtübernahme durch die Taliban durften lediglich die Projekte für Kinder mit Behinderungen weiterlaufen; für Mädchen allerdings, so lautet das Dekret der Taliban, das in unseren Projektstandorten Kabul und Jalalabad streng umgesetzt wird , nur bis zur 6. Klasse. Gemeinsam mit unserem Partner entwickeln wir Ideen, wie wir das Friedenerziehungsprojekt fortsetzen können. Gleichzeitig sind wir auf der Suche nach neuen Partnern, die auch in Provinzen tätig sind, wo die Taliban-Regeln weniger streng angewendet werden. Dort möchten wir uns verstärkt im Bereich der humanitären Hilfe engagieren.

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