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Kinderarbeit in Nepal
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Kindsein im Schatten des Brennofens

Text und Bilder: Martin Bondzio

Nepal gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Im Süden des Landes, fernab der Touristenpfade und majestätischen Himalaya-Gipfel, schuften Kinder in Ziegeleien für einen Hungerlohn. Auch der zwölfjährige Anil, der für das Überleben seiner Familie die Schule verlassen musste. Wir haben ihn und andere Kinder getroffen, deren Leben von Armut, aber auch von Hoffnung geprägt ist. Ein Blick hinter die Fassade eines Landes, das so viel mehr ist als nur ein Ziel für Abenteurer.

Majestätisch ragen die Gipfel der „Achttausender“ aus dem Himalaya-Gebirge durch die Wolkendecke. Beim Anflug auf die nepalesische Hauptstadt Kathmandu ist das Bergmassiv gefühlt zum Greifen nah. Ich kann mir nur schwer vorstellen, welche Strapazen die Bergsteiger durchleben müssen, um diese Berge zu bezwingen. Jenseits der beschneiten Bergkette lässt sich Tibet erahnen. Auch in Kathmandu wird sehr schnell deutlich, dass Tibet nicht weit ist. Die typischen Gebetsfahnen tanzen im Wind und buddhistische Schreine wechseln sich mit hinduistischen ab.

Nur Felder und Schlote

Wir besuchen Nepal nicht als Touristen. Unser Ziel ist der Süden des Landes, die Stadt Chandranigahapur in der Provinz Rautahat. Hier im Flachlandreiht sich Feld an Feld, nur unterbrochen von Ziegeleien, deren Schlote dutzendfach in den Himmel ragen und schwarzen Rauch ausatmen. Das Leben vieler Familien ist von Armut geprägt. Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt mit einem Bruttoinlandsprodukt von 4,92 Euro pro Kopf. Für viele Kinder bedeutet das: Arbeit statt Schule, Zuckerrohrfeld statt Fußballplatz, Ziegelei statt Sandkasten.

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Mit einem Pferdekarren werden die schweren Steine in den Ofen transportiert (Foto: Martin Bondzio)
Mit einem Pferdekarren werden die schweren Steine in den Ofen transportiert
Mit einem Pferdekarren werden die schweren Steine in den Ofen transportiert (Foto: Martin Bondzio)
Mit einem Pferdekarren werden die schweren Steine in den Ofen transportiert

Alleinverdiener mit zwölf Jahren

Wir fahren an diesem kalten und nebligen Morgen in ein kleines Dorfaußerhalb der Stadt. Die Bewohnerinnen und Bewohner gehören zur untersten Kaste Nepals. Einfache Lehmhütten reihen sich aneinander. Kühe und Ziegen liegen auf der Straße oder in der warmen Ascheausgebrannter Feuer.

Wir treffen Anil und seine Mutter. Der Eingang ihrer Hütte erinnert an ein Iglu, rund und klein. Im Inneren gibt es nur einen Raum zum Schlafen, Kochen, Lernen, Wäsche aufhängen usw. Am Boden liegen noch die Decken vom Nachtlager der vierköpfigen Familie. Matratzen gibt es ebenso wenig wie Privatsphäre. Anils Vater hatte vor wenigen Jahren einen Unfall und kann keiner Arbeit mehr nachgehen. Staatliche Unterstützung gibt es für die Familie nicht und so musste Anil als ältester Sohn die Schule verlassen und in der Ziegelei schuften gehen. Die Familie kommt einigermaßen über die Runden und Anils jüngerer Bruder Pawan kann die Schule besuchen.

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Der 12-Jährige Anil arbeitet in einer Ziegelei (Quelle: Kindernothilfe)
Anil und Tej verladen die luftgetrockneten Rohlinge. Mit der beschwerlichen Arbeit verdienen sie etwa drei Euro am Tag.
Der 12-Jährige Anil arbeitet in einer Ziegelei (Quelle: Kindernothilfe)
Anil und Tej verladen die luftgetrockneten Rohlinge. Mit der beschwerlichen Arbeit verdienen sie etwa drei Euro am Tag.

Schulungen klären auf

Der Kindernothilfe-Partner Rural Development Center (RDC) unterstützt Familien wie die von Anil. In Kinderrechtsschulungen werden die Eltern dafür sensibilisiert, wie wichtig das Recht auf Bildung und der Schutz vor Kinderarbeit sind. Für die Frauen und Männer des Dorfs sind die Schulungen eine neue Erfahrung. Dass jemand kommt, um sich ihre Probleme anzuhören, ihnen Tipps und Hoffnung zu geben, ist für viele Menschen im Dorf ein Geschenk. Ein Geschenk, das das Leben von vielen Kindern im Dorf verändern kann.

In Anils Dorf ist die Arbeit von RDC noch ganz am Anfang. Das merken wir in den Gesprächen mit den Kindern und den Eltern. Einige sind verzweifelt – so wie Anils Mutter. Sie möchte, dass Anil zur Schule geht. Aber woher soll das Geld zum Überleben kommen? Anil selbst wirkt so, als hätte er bereits resigniert. Auf die Frage, wie er sich seine Zukunft vorstellt, hat er erst keine Antwort, denn die Frage stellt sich für ihn gar nicht. Er wird in der Ziegelei arbeiten. Was anderes ist für ihn nicht vorgesehen. Er nehme sein Schicksal an, sagt er, und ich sehe, wie sich sein Körper verspannt, als würde er diesen Gedanken wie einen Fremdkörper loswerden wollen.

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Drei Euro für elf Stunden Arbeit

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Anil und sein Freund Tej sitzen auf dem Pferdekarren und schauen in die Kamera. Sie sind ein eingespieltes Team in der Ziegelei. Anstatt zu arbeiten, würden sie lieber gemeinsam Fußball spielen. (Foto: Martin Bondzio)
Anil und sein Freund Tej sind ein eingespieltes Team in der Ziegelei. Anstatt zu arbeiten, würden sie lieber gemeinsam Fußball spielen.
Anil und sein Freund Tej sitzen auf dem Pferdekarren und schauen in die Kamera. Sie sind ein eingespieltes Team in der Ziegelei. Anstatt zu arbeiten, würden sie lieber gemeinsam Fußball spielen. (Foto: Martin Bondzio)
Anil und sein Freund Tej sind ein eingespieltes Team in der Ziegelei. Anstatt zu arbeiten, würden sie lieber gemeinsam Fußball spielen.
Die Ziegelei ist nicht weit von Anils Zuhause entfernt und der Zwölfjährige macht sich mit seinem Freund Tej sofort an die Arbeit, als sie früh am Morgen dort ankommen. Zeit ist Geld für die beiden, denn sie werden nach Stück bezahlt. Überall auf dem Gelände der Brennerei stehen kleine provisorische Hütten. Sie gehören zu den Wanderarbeiterfamilien, die hier die Ziegel-Rohlinge formen. Auch sie werden nach produzierter Stückzahl bezahlt. Wer am Ende die Rohlinge aus den Formen klopft, scheint hier niemanden zu interessieren. Die Rechnung für die Familien ist einfach: Sie schaffen größere Mengen, wenn die Kinder mitarbeiten. Wie viel die Familien tatsächlich für die beschwerliche Arbeit bekommen, ist nicht ganz klar. Es soll pro Rohling eine Rupie (0,06 Cent) sein, was bei einem finalen Verkaufspreis von neun Rupien pro Ziegel nur schwer vorstellbar ist.
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Anil und seine Mutter beim Frühstück. Die Familie ist auf das Einkommen des Jungen angewiesen. (Foto: Martin Bondzio)
Anil und seine Mutter beim Frühstück. Die Familie ist auf das Einkommen des Jungen angewiesen.
Anil und seine Mutter beim Frühstück. Die Familie ist auf das Einkommen des Jungen angewiesen. (Foto: Martin Bondzio)
Anil und seine Mutter beim Frühstück. Die Familie ist auf das Einkommen des Jungen angewiesen.

Anils und Tejs Aufgabe ist es, die circa drei Kilogramm schweren Steine mit einer Pferdekarre in den riesigen Ofen zu transportieren. Hier stapeln Festangestellte die getrockneten Rohlinge übereinander. Die oberste Schicht versiegelt den Ofen. Vier Wochen später können die Steine fertig entnommen und auf Lastwagen verladen werden. Eine Million Ziegel kann dieser Ofen auf einmal brennen, zehn Millionen sind es in einer Saison.

350 Rupien für 1 000 transportierte Steine sollen der Lohn für Anil und Tej sein. Wenn sie einen langen Tag machen, schaffen sie 2 000 Steine. Das sind gut sechs Euro Verdienst, für jeden drei Euro, für elf Stunden harte körperliche Arbeit ohne jegliche Schutzausrüstung.

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Anwältin der Mädchen

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Die Frauen des Dorfs nehmen an einer Kinderrechtsschulung teil (Foto: Martin Bondzio)
Die Frauen des Dorfs nehmen an einer Kinderrechtsschulung teil
Die Frauen des Dorfs nehmen an einer Kinderrechtsschulung teil (Foto: Martin Bondzio)
Die Frauen des Dorfs nehmen an einer Kinderrechtsschulung teil

Unser Partner Chhori führt bereits seit 2022 Kinderrechtsschulungen in der Region durch. Die historisch gewachsenen Strukturen sind tägliche Herausforderungen. Die Rechte von Mädchen und Frauen sind Chhori besonders wichtig. In der Organisation arbeiten ausschließlich Frauen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, gegen die patriarchalen Strukturen in Nepal anzukämpfen. Zu viele Mädchen werden immer noch minderjährig zwangsverheiratet oder zum Arbeiten in Nachbarregionen oder nach Indien geschickt. Viele von ihnen verschwinden dabei in Fabriken, Haushalten oder Bordellen. Sie gelten als „unsauber“, wenn sie ihre Periode haben, und werden zum Teil während dieser Zeit sogar weggesperrt.

Chhori versteht sich als Anwältin der Mädchen in Nepal. Zum Beispiel für Kinder wie die kleine Gamya. Sie ist zehn Jahre alt, aufgeweckt und fröhlich. Aber auch sie hat bereits in der Ziegelei geschuftet. Im Kinderrechteclub lernte sie, dass sie ein Recht auf Bildung hat, und dass Kinderarbeit verboten ist. Parallel wurden die Eltern aufgeklärt, dass Bildung die nachhaltigste Maßnahme gegen Armut ist.

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Gamya, ein Mädchen aus Nepal, ist froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Die Schule macht ihr viel Freude. Auf dem Bild sitzt sie im Klassenraum und schaut in die Kamera. (Foto: Martin Bondzio)
Gamya ist froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Die Schule macht ihr viel Freude.
Gamya, ein Mädchen aus Nepal, ist froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Die Schule macht ihr viel Freude. Auf dem Bild sitzt sie im Klassenraum und schaut in die Kamera. (Foto: Martin Bondzio)
Gamya ist froh, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Die Schule macht ihr viel Freude.

Ziegelei statt Schule

Es ist sieben Uhr morgens, und wir sind zu Gast in Gamyas Kinderrechteclub. Rund 30 Kinder sind heute vor der Schule zusammengekommen. Sie haben eine Präsentation für uns vorbereitet. Gamya erzählt ihre Geschichte: Wie ihre Eltern sie nicht in die Schule, sondern in die Ziegelei zur Arbeit schickten. Sie berichtet, wie sie im Kinderrechteclub den Mut und die Unterstützung bekam, ihr Recht auf Bildung auch ihrer Familie gegenüber durchzusetzen. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die innere Einstellung der Kinder hier ist. Sie sind voller Hoffnung, motiviert und haben klare Träume.

Zurück am Haus von Gamya gibt es vor der Schule noch einiges zu erledigen. Wasser muss geholt werden. Der Brunnen steht mitten auf einem großen Platz im Dorf. Viele Menschen sitzen hier vor ihren Häusern. Das ist deswegen bemerkenswert, weil der Brunnen gleichzeitig als Badezimmer für das halbe Dorf dient. Für die Mädchen gibt es hier keine Privatsphäre.

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Gamya steht im Klassenzimmer und spricht mit ihrer Lehrerin. Wenn Gamya groß ist, möchte sie Sozialarbeiterin werden, um anderen Kindern den Weg aus der Kinderarbeit zu zeigen. (Foto: Martin Bondzio)
Wenn Gamya groß ist, möchte sie Sozialarbeiterin werden, um anderen Kindern den Weg aus der Kinderarbeit zu zeigen
Gamya steht im Klassenzimmer und spricht mit ihrer Lehrerin. Wenn Gamya groß ist, möchte sie Sozialarbeiterin werden, um anderen Kindern den Weg aus der Kinderarbeit zu zeigen. (Foto: Martin Bondzio)
Wenn Gamya groß ist, möchte sie Sozialarbeiterin werden, um anderen Kindern den Weg aus der Kinderarbeit zu zeigen

Für Gamya ist die Hausarbeit selbstverständlich. Das Geschirr wird mit Asche eingeschmiert und anschließend abgespült. Danach werden das Haus und der Hof gekehrt, den Geschwistern wird bei der Morgenroutine geholfen und die Schulsachen werden gepackt. Manchmal macht Gamya auch noch Schulaufgaben am Morgen, wenn sie es am Vorabend nicht mehr geschafft hat. Um 18 Uhr geht die Sonne unter und elektrisches Licht hat die Familie nicht.

Gamya freut sich auf die Schule. Ihre Mutter verabschiedet sie liebevoll. Sie kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie ihre Tochter noch vor wenigen Monaten zur Arbeit geschickt hat.

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Gamya darf zur Schule gehen

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Sie ist Chhori dankbar, dass sie ihnen eine Alternative aufgezeigt haben und ihre Kinder nun zur Schule gehen. Aber die Familie zahlt einen Preis dafür. Der Vater arbeitet jetzt nicht mehr in der Ziegelei, sondern in einer Fabrik in einer größeren Stadt. Hier kann er mehr Geld verdienen – dafür ist er kaum zu Hause.

In der Schule angekommen wird als Erstes mit allen Schülerinnen und Schülern auf dem Schulhof Sport gemacht, die Nationalhymne gesungen und gebetet. Anschließend geht es los mit Mathe. Die Klasse ist gut gefüllt, und die Kinder müssen beengt auf ihren Sitzbänken sitzen. Das stört aber niemanden. Konzentriert widmen sie sich ihren Aufgaben. Bevor wir gehen, verrät uns Gamya noch, dass sie einmal Sozialarbeiterin werden will, um Kinderarbeit weiter zu bekämpfen.

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Die Hoffnung auf eine Kindheit

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Anils größter Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Auf dem Foto sieht man ihn, wie er in einem leeren Klassenraum an einem Tisch sitzt. (Fotos: Martin Bondzio)
Anils größter Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu dürfen
Anils größter Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu dürfen. Auf dem Foto sieht man ihn, wie er in einem leeren Klassenraum an einem Tisch sitzt. (Fotos: Martin Bondzio)
Anils größter Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu dürfen

Zurück bei Anil. Er möchte uns seine Schule zeigen. Auf dem Schulgelände wirkt Anil wie ausgewechselt. Es ist das erste Mal, dass ich ihn lachen sehe. Er zeigt uns seinen ehemaligen Klassenraum. Ich merke, dass er sich hier sicher fühlt, dass er doch noch Hoffnung hat, hierher zurückkehren zu dürfen. Ich weiß, dass unser Partner RDC ihn auf seinem Weg unterstützen wird.

Kinderrechte gelten für alle

Wir haben auf dieser Reise noch viele andere Kinder kennengelernt. Alle teilen das Schicksal, dass sie in eine unzumutbare Welt hineingeboren wurden. Es muss sich noch viel entwickeln in Nepal, damit Kinder ihre Rechte im vollen Umfang wahrnehmen können. Die Arbeit unserer Partnerorganisationen leistet einen wichtigen Beitrag.

Beim Anblick der Berge, die sich hinter dem Kathmandutal auftürmen, denke ich wieder an die Bergsteiger und komme nicht umhin, unweigerlich die Ungerechtigkeit tief in mir zu spüren. Einige dürfen sich entscheiden, den Himalaya als persönliche Lebensherausforderung anzugehen; für andere ist das Leben ungewollt ein Achttausender, ein unbezwingbarer Berg, auf dem die Luft zum Atmen oft zu dünn wird und Hilfe so unfassbar fern scheint. Wenn es den Bergsteigern nicht gelingt, den Gipfel zu erreichen, können sie einfach nach Hause fahren. Diesen Luxus haben die Kinder von Chandranigahapur nicht.

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Eine Mädchen in einer Ziegelei in Nepal verschnauft an einem Ziegelstapel (Quelle: Jakob Studnar)

Nepal: Bildung für eine bessere Zukunft

1,6 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, sondern zur Arbeit. Durch Ihre Hilfe erhalten Kinder in Nepal einen Zugang zur Bildung.

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Über den Autor

Portraitfoto von Martin Bondzio (Quelle: Ralf Krämer)
Martin Bondzio
ist stellvertretender Pressesprecher der Kindernothilfe