Die Wunden, die man nicht sieht
Text: Natalia Wörner Bilder: Sharni Jayawardena
Schauspieler und Kindernothilfe-Botschafterin Natalia Wörner setzt sich seit 20 Jahren mit ihrem Engagement für Kinder- und Frauenrechte ein. Nun hat Projekte in Sri Lanka besucht und erlebt. wie Theater als Therapie wirkt – und wie Frauen mit Chilipulver neue Wege aus der Armut finden.
Sri Lanka. Ein Land, das auf den ersten Blick wie ein Tropenparadies wirkt. Palmen wiegen sich sanft im Wind. Hunde dösen in der Mittagshitze, während Kokosnussverkäufer am Straßenrand ihre Ware anpreisen. In der Luft liegt der Duft von Kardamom, Curryblättern und Ozean. Doch hinter diesem postkartenreifen Bild verbergen sich Geschichten, die schmerzen. Geschichten, die man nicht sieht – und die dennoch real sind.
Ich bin im Norden der Insel unterwegs, in einer Region, die bis heute von den Folgen des Bürgerkrieges gezeichnet ist. Hier war das Zentrum der jahrzehntelangen Auseinandersetzung zwischen der Regierung und den tamilschen Rebellen, den Tamil Tigers. Die Tamil Tigers wollten die Diskriminierung und Unterdrückung der tamilischen Minderheit durch die singhalesisch dominierte Regierung beenden. Mit einem gewaltsamen Befreiungskampf strebten 2025sie die Gründung eines eigenen Staates im Norden und Osten Sri Lankas an. Ihre militärische Stärke und ihr taktisches Vorgehen führten zu einem brutalen Konflikt, der das Land tief spaltete und massive Zerstörung hinterließ.
Der Krieg, der 1983 begann, ist seit 2009 offiziell vorbei – doch Frieden ist mehr als das Schweigen der Waffen. Frieden bedeutet auch, dass Menschen sich wieder sicher fühlen, dass ihre Wunden heilen dürfen. Nach zwei Stunden Fahrt kommen wir in Vavuniya an: Hier liegt Manik Farm. Auch nach so vielen Jahren sind die Schatten des Krieges hier noch sichtbar.


Ein stiller, weiblicher Wiederaufbau
Manik Farm war einst eines der größten Lager für meist tamilische Binnenflüchtlinge in ganz Asien. Über 300 000 Menschen wurden hier nach dem Krieg interniert. Die Zustände waren katastrophal: brütende Hitze in den Zelten, zu wenig Nahrung, kaum medizinische Versorgung. Offiziell wurde das Lager 2012 geschlossen. Doch viele der Menschen, die damals hierhergebracht wurden, sind geblieben – weil sie nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollen.
Heute stehen auf dem Gelände kleine Hütten, oft selbst gebaut, meist mit Dächern aus Blech, die bei Regen mehr Wasser reinlassen als abhalten. Die Regierung hat vielen Familien jeweils ein kleines Stück Land zugewiesen. Aber Land alleine bedeutet noch kein Zuhause.
Auffällig ist: Die meisten Haushalte hier werden von Frauen geführt. Frauen, deren Männer im Krieg starben, verschollen sind oder gezwungen waren, in der Hauptstadt Colombo oder im Ausland Arbeit zu finden. Es ist ein stiller, weiblicher Wiederaufbau. Doch wenn man sie fragt, wer bei ihnen zu Hause das Sagen hat, nennen viele trotzdem einen Mann: den ältesten Sohn, den Schwiegervater, einen Onkel. Eine Reflexantwort, tief verankert im patriarchalen System.


"Früher hatten wir keine Stimme"
Ich treffe eine Gruppe Frauen, die sich nicht länger mit ihrer Situation abfinden wollen. Es ist Vormittag, die Sonne brennt, und wir sitzen auf ausgeblichenen Plastikstühlen im Schatten eines riesigen Mangobaums. Einige lachen, andere fegen den Hof, wieder andere mahlen Chilis zu Pulver – der Windträgt den scharfen Geruch herüber.
„Früher“, sagt Latha, eine der Frauen, „hatten wir keine Stimme. Jetzt haben wir eine Gruppe. Wir haben uns. Und das ist der Anfang von allem.“ Diese Frauen sind Teil einer Selbsthilfegruppe, die von SEED, einer Partnerorganisation der Kindernothilfe, unterstützt wird. Was auf den ersten Blick wie eine einfache Nachbarschaftshilfe aussieht, ist in Wahrheit ein System der Befreiung.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit für Frauen
„Wir verdienen mit unseren Produkten ein wenig Geld. Nicht viel, aber genug, um unsere Kinder zur Schule zu schicken“, erzählt Kumari, die mir eine Schale mit frischem Chilipulver zeigt. Die Gruppen treffen sich regelmäßig, tauschen Ideen aus, planen Projekte und helfen sich gegenseitig. Sie lernen, wie man Preise kalkuliert, Produktevermarktet und kleine Geschäftsideen umsetzt –etwa die Herstellung von Öllampen aus getrocknetem Kuhdung, die in vielen Haushalten verwendet werden.
Aber es geht um mehr als nur wirtschaftliche Unabhängigkeit. Diese Gruppen geben den Frauen ein Gefühl von Würde. Sie lernen, für sich selbst zu sprechen, Verantwortung zu übernehmen, eigene Entscheidungen zu treffen. In einem Land, in dem Frauen jahrzehntelang darauf reduziert wurden, zu schweigen und zu gehorchen, ist das revolutionär.
Ich bin beeindruckt von der Energie, dem Lachen, der Lebensfreude dieser Frauen – trotz aller Härten. Ihre Geschichten sind geprägt von Verlust, Armut und Ausgrenzung. Aber auch von Kampfgeist, Solidarität und Vision.


„Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in dieser Armut aufwachsen“
Auf einem Plan aus Papier, mit bunten Stiften gezeichnet, sehe ich die Zukunft, wie sie sich die Frauen vorstellen: Straßen ohne Schlaglöcher, ein kleines Gesundheitszentrum, eine Apotheke – und ein Spielplatz mit Rutsche, Schaukel, Sandkasten. Diesen Traum haben sie sich bereits erfüllt. „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder in dieser Armut aufwachsen“, sagt eine Mutter. „Sie sollen frei sein. Spielen, lernen, leben.“ Es sind einfache Wünsche. Und doch in dieser Region nicht selbstverständlich.
Was mich besonders bewegt: Die Frauen denken nicht nur an sich selbst. Sie denken an das große Ganze. Sie wissen, dass Veränderung nicht von alleine kommt – sondern nur, wenn man sie gemeinsam angeht.
Die Belastung für Kinder ist groß
Im nächsten Projekt, das ich besuche, geht es um Jugendliche – und um die Wunden, die man nicht sieht. Wir befinden uns nach etwa drei Stunden Fahrt in einer Schule in Eppawala, im ländlichen zentralen Norden Sri Lankas. Draußen schreien Krähen, drinnen ist es still – bis auf das Kichern einer Gruppe Schülerinnen und Schüler, die sich auf den Theaterworkshop freuen, der gleich startet. Schon die Aufwärmphase hat es in sich. Es wirkt verspielt, fast albern. Doch was hier passiert, ist tiefgehend. Dass Jungen und Mädchen so selbstverständlich miteinander Fangen spielen, ist in Sri Lanka keineswegs üblich, erklärt uns Projektleiter Sumudu von der Partnerorganisation Stages Theatre Group.
Viele dieser Kinder haben belastende Erfahrungen gemacht. Manche haben Gewalt erlebt, andere den Verlust eines Elternteils. Viele leiden unter dem Druck der Schule, unter Armut, unter Perspektivlosigkeit. Nach der COVID-Pandemie hat sich die Situation verschärft: Die Zahl jugendlicher Suizide ist erschreckend gestiegen, ebenso wie Gewalt in den Familien und unter Gleichaltrigen.


„Ich trage die Narben des Krieges – und keiner sieht sie“
Heute bekommen die Jugendlichen eine ungewöhnliche Aufgabe: Sie sollen sich einen Dialog mit einem Baumausdenken. Kurz zuvor haben sie sich um einen Feigenbaum verteilt, der mitten auf dem weitläufigen Schulgelände steht. Reglos lehnen sie mit dem Rücken an der Rinde oder liegen ausgestreckt im Schatten der Baumkrone. Ein Junge sitzt in einer Astgabel, etwa zwei Meter über dem Boden, die Beine baumelnd, den Blick gedankenverloren in die Ferne gerichtet. Konzentriert liest ein Mädchen aus ihrem Block vor. Ihre Stimme ist klar, aber leise. „Alle gehen achtlos an mir vorbei, keiner sieht mich an.“ Sie macht eine kurze Pause, schaut in die Runde.Dann lächelt sie kurz, fast verlegen. „Sagt derBaum.“
Not ist ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität
„Der Dialog mit einem stummen Gegenüber ist sehr selbst reflexiv“, erklärt Trainer Sumudu. „Die Jugendlichen sprechen eigentlich mit sich selbst, wenn sie dem Baum Worte geben. Sie dürfen Dinge sagen, die sie sonst nie aussprechen würden.“ Das zeigen auch die Gesprächsprotokolle, die sich die Jugendlichen nun gegenseitig vorlesen. Aus ihnen spricht viel: Verletzlichkeit, Einsamkeit, Sehnsucht – aber auch Kraft. Immer wieder kehren die gleichen Motive zurück: nicht gesehen zu werden. Nicht gehört zu werden. Nicht wichtig zu sein.
Ein Junge schreibt: „Ich bin stark. Ich bin alt. Ich bin verwurzelt. Aber niemand fragt, wie es mir geht. Ich trage die Narben des Krieges – und keiner sieht sie.“ Diese Not ist auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Realität und vor allem des zerrütteten Bildungssystems in Sri Lanka. Zwar haben Kinderformal das Recht auf kostenlosen Schulbesuch, doch die Realität sieht anders aus: Frontalunterricht, Auswendiglernen, veraltete Lehrpläne. Viele Lehrkräfte sind schlecht ausgebildet und überfordert. Statt Neugier zu fördern, erzeugt das System Leistungsdruck und Demütigung.


„Wenn ich hier bin, bin ich nicht mehr traurig“
„Wenn du nicht gut bist, wirst du ignoriert. Und wenn du arm bist, wirst du gar nicht erst gefragt“, erzählt mir der 15-jährige Ithira nach dem Workshop. „Aber hier im Theater ist es anders. Hier hört mir jemand zu.“
Im Theaterworkshop erleben die Jugendlichen oft zum ersten Mal, was es heißt, eine Stimme zu haben– und dass diese Stimme zählt. Sie lernen, ihre Gedanken zu formulieren, sich kreativ auszudrücken, sich gegenseitig wahrzunehmen. Es ist ein Ort ohne Zensur, ohne Angst. Für viele ist das Theaterspiel der erste Raum, in dem Jungen und Mädchen auf Augenhöhemiteinander interagieren – respektvoll, spielerisch, ohne Scham. „Ich wusste nicht, das sich mit einem Mädchen lachen darf, ohne dass jemand etwas sagt“, sagt Ithira nachdenklich. „Aber jetzt weiß ich: Wir sind gar nicht so verschieden.“
Die 14-jährige Nadini bringt es auf den Punkt: „Wenn ich hier bin, bin ich nicht mehr traurig.“ Mehr muss man eigentlich nicht sagen. In diesen Momenten ist alles da, was ein Kind braucht: Raum. Stimme. Resonanz.
Kinder brauchen Schutzräume
Doch der Weg zurück in die Welt außerhalb des Workshops ist schwer. Die Realität bleibt hart. Die psychische Belastung vieler Kinder ist hoch, und es fehlt an Systemen, die sie auffangen könnten. Umso wichtiger sind solche Schutzräume, in denen sie lernen dürfen, dass sie zählen. Dass sie etwas sagen dürfen. Dass jemand zuhört.


Sri Lanka ist ein Land voller Gegensätze: atemberaubende Natur und bittere Armut, herzliche Gastfreundschaft und tief sitzende Erfahrungen. Aber es ist auch ein Land voller Kraft – und voller junger Menschen, die den Mut haben, ihre Geschichten zu erzählen. Die Projekte der Kindernothilfe zeigen: Veränderung ist möglich. Nicht über Nacht, nicht flächendeckend – aber stetig, nachhaltig, menschlich.
Ich nehme aus dieser Reise mit: Es sind oft nicht die großen Programme oder Versprechungen, die Leben verändern, sondern die kleinen Schritte. Eine Gruppe Frauen, die sich gegenseitig stärkt. Ein Plan von einem besseren Dorf, der in einem Kopf entsteht. Ein Mädchen, das im Saal steht und seine Gefühle zum Ausdruck bringt. Diese Menschen haben mich bewegt. Ihre Stärke, ihr Mut, ihre Hoffnung. Und ihre Überzeugung, dass es besser werden kann – wenn man zusammenhält. Denn es gibt viele Arten von Verletzungen. Und es gibt viele Wege, die Wunden zu heilen.




