Kindernothilfe. Gemeinsam wirken.

Im Kinderhaus lernen Mädchen und Jungen, zusammenzuhalten

Text: Hubert Wolf, Fotos: Jakob Studnar, erschienen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung am 04. Dezember 2019

 

Cox's Bazar. Die WAZ bittet ihre Leser um Spenden für die Kinder der Rohingya. In Schutzzentren finden sie Ruhe und Rückhalt – und lernen fürs Leben.
 
Gerade ist das Kinderzentrum eine Schule, keine Frage. 28 kleine Mädchen sitzen in einem großen Raum, ihre Lehrerin steht in der Mitte, Tafeln hängen an den Wänden. „Die Buchstaben“ steht darauf und darunter folgen die Buchstaben. Oder: „Die Gemüse“. Oder: „Die Krankheiten: Fieber, Dengue Fieber, Durchfall, Masern, Malaria . . .“ Und was man tun kann, um sich zu schützen. Verzweifelt wenig, außer Händewaschen und Hygiene. Willkommen im größten Flüchtlingslager der Welt.
 
Bei der Stadt Cox’s Bazar in Bangladesch sitzt eine Million Menschen fest, sie sind vertrieben aus dem ostasiatischen Nachbarstaat Myanmar. Sie gehören zur bengalischen Minderheit der Rohingya und sind ein Volk ohne eigenes Land. Myanmar lässt sie nicht zurück, Bangladesch lässt sie nicht weiter als bis in dieses grenznahe Lager. Was zu absurden Momenten führt, wenn ein Chor vertriebener Kinder die Hymne von Myanmar vorsingen muss. Politisch gewollt. Sie sollen ja zurück. Die Hymne heißt auch noch: „Bis ans Ende der Welt.“ Dabei wollen sie doch heim.

 


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Arif (11) besucht zum ersten Mal im Leben eine Schule

Die Kindernothilfe unterhält mit lokalen Partnern in dem Lager neun Kinderschutzzentren. Hier können die Mädchen und Jungen etwas lernen, dann sind die Häuser, halbwegs feste Gebäude zwischen ungezählten Hütten auf Hügeln, eine Art Schule – aber die einzige, die es gibt. Oder sie können, wie gerade im Vorhof, einfach Seilchen springen, fangen spielen oder einen Drachen steigen lassen. Da haben sie dann aus der Raumnot eine Tugend gemacht, ist das Schutzzentrum zugleich eine Art Kinderhaus.

Da ist Arif, der Elfjährige, der erstmals überhaupt im Leben eine Schule besucht. Oder Ismail. In Myanmar, erzählt seine Mutter Setara Begum, hätte er nur zur Schule gehen können, wenn er sich von den Rohingya losgesagt hätte. „Hier hat er einen Ranzen, Stifte und einen Sonnenschirm für den Schulweg“, sagt die 31-Jährige und freut sich. Ismail ist zwölf und kann jetzt seinen Namen schreiben, gerade ist er nach Hause gekommen. Zuhause ist: Camp 17, Block H-79, Flecken 267.519.


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Im Kinderhaus
In den Kinderschutzzentren können die Mädchen und Jungen lernen und spielen. Für ein paar Stunden sind sie in einem gewissen Sinn raus aus dem Lager.
Im Kinderhaus
In den Kinderschutzzentren können die Mädchen und Jungen lernen und spielen. Für ein paar Stunden sind sie in einem gewissen Sinn raus aus dem Lager.

„Zu wenige Organisationen gehen in so eine Notsituation und helfen Kindern“

Mit ihrer Hilfe, liebe Leser, wollen wir weitere Kinderschutzzentren bauen und ausstatten. Neun davon erreichen 600 Kinder, die Glücklichen – aber hier leben 400.000. „Zu wenige Organisationen gehen in so eine Notsituation und helfen Kindern“, sagt Jörg Denker, der Asienexperte der Kindernothilfe. Wie Marufa (Camp 17, Sub-Block H-86), die nach der Flucht zunächst auf einem Fußballplatz lebte und dann noch in einem anderen Lager. Ihre Mutter ist dort gestorben.

Psychologen aus dem Kinderschutzzentrum halfen Marufa, ihr Trauma zu verarbeiten. Vor zwei Jahren war sie hier allein und ängstlich, heute ist sie in der Jugendgruppe, die selbst anderen Mädchen hilft. „Wir gehen von Hütte zu Hütte und erzählen den Leuten über die Rechte von Kindern und darüber, welche Gefahren ihnen hier drohen. Gewalt, Missbrauch, Frühverheiratung. Schlechte Hygiene“, erzählt die 14-Jährige. Und, dass sie ihren Cousin überzeugt hat, zur Schule zu gehen: „Er wollte erst nicht.“


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Im Kinderhaus
Lehrerin Sakera Kobita beginnt ihren Unterricht in der Mädchenklasse mit Atem- und Entspannungsübungen.
Im Kinderhaus
Lehrerin Sakera Kobita beginnt ihren Unterricht in der Mädchenklasse mit Atem- und Entspannungsübungen.

Auf dem Stundenplan steht Problemlösung

In der Schule hat Lehrerin Sakera Kobita inzwischen mit dem Unterricht begonnen. Auf dem Stundenplan steht „Problemlösung“. Die 28 Mädchen bilden drei Kreise und haken sich mit den Armen unter, Frau Kobita legt Stifte in ihren Rücken. Die müssen die Kinder nun aufsammeln, ohne den untergehakten Kreis zu sprengen. Sie biegen sich, sie strecken sich, klappt. „Was lernt ihr davon?“, fragt die Lehrerin. „Als Gruppe zusammenzuhalten.“ „Einander zu helfen.“

Auch drei Kinder von Ashmida und Mamunur Rashid kommen regelmäßig hierher. Das Paar hatte ein Geschäft in Myanmar, ist nach der Vertreibung in diesem Lager „Kutupalong Expansion“ gelandet. Mamunur Rashid sitzt auf dem Boden, hat seine Beine mit einer Decke umwickelt. doch ein stark verkrüppelter Fuß schaut hinaus. In diesem Lager aus steilen Hügeln und rutschigen Pfaden ist der Mittdreißiger praktisch an die düstere Hütte gefesselt, vor dem Eingang beginnen die schiefen Treppen aus Erde, einkaufen kann er nicht, arbeiten kann er nicht.
 
Die drei Kinder im Schutzzentrum sind die einzige Perspektive, die die Familie hat. Wo sie schreiben lernen, wo sie Englisch lernen. Und so viel mehr. „Anfangs haben Eltern beim Thema Schule nach Stiften und Heften gefragt“, sagt Karl Andersson von der Hilfsorganisation ,Amurt’, die mit der Kindernothilfe zusammenarbeitet: „Heute erzählen sie mir, dass ihre Kinder sie ausschimpfen, wenn sie sich nach der Toilette nicht die Hände waschen.“

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