„Jeder Tag ist ein Kampf mit den Emotionen“
Text: Annette Kuhn, Aufmacherfoto: Jakob Studnar
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine dauert am 19. November 2024 exakt 1000 Tage. Seit fast drei Jahren leben die Menschen in der Ukraine oder an Orten außerhalb des Landes, wo sie Zuflucht gefunden haben, in ständiger Angst und Unsicherheit. Besonders schwerwiegend sind die Auswirkungen des zermürbenden Krieges auf Kinder und Jugendliche. Was macht das mit ihnen? Was brauchen sie?
Zum dritten Mal steht den Menschen in der Ukraine ein Kriegswinter bevor. Die jüngeren Kinder kennen ihr Land heute nur im Kriegszustand. Familien sind zerrissen, der Schulbetrieb ist im ständigen Ausnahmemodus. Online-Unterricht ist wegen des häufigen Stromausfalls nicht gesichert. Die Tage sind bestimmt von Bombenalarm und stundenlangen Aufenthalten in Schutzbunkern, U-Bahn-Stationen oder einfachen Kellern. Damit werden nicht nur jeden Tag Kinderrechte verletzt, sondern auch die psychosoziale Belastung steigt täglich. Das beobachten auch Kinderrechtsorganisationen und all die, die die Kinder in der Ukraine in dieser Zeit erleben.
Wie wirkt sich der fast drei Jahre andauernde Krieg auf Kinder und Jugendliche aus? Welche Unterstützung ist jetzt erforderlich? Was kann ihnen in dieser Situation Halt und Perspektive geben? Mit diesen Fragen hat sich im Oktober auch eine Konferenz in Berlin befasst, die die Kindernothilfe mitveranstaltet hat. Dabei war auch Dr. Camelia Doru, Geschäftsführerin der ICAR Foundation, einer rumänischen NGO, die seit vielen Jahren mit Geflüchteten arbeitet und sich für deren Rechte starkmacht. ICAR ist Partnerorganisation der Kindernothilfe. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine setzt ICAR Projekte für aus der Ukraine geflüchtete Kinder in Rumänien um.
Die Augen der Kinder sind ständig auf ihren Smartphones
Und noch etwas hat Camelia Doru festgestellt: „Die Menschen, die aus der Ukraine kommen, sind sehr digitalisiert. Ihre Augen sind die ganze Zeit auf den Screens, sie sind in permanenter Verbindung zu dem, was in der Ukraine passiert.“ Ständig werden sie mit traumatisierenden Informationen konfrontiert, sie erleben Unsicherheit und haben Angst um ihre Familie. In den Projekten der Kindernothilfe bekommen die Kinder daher vor allem Angebote, bei denen sie sich mal lösen können von den digitalen Geräten, bei denen sie buchstäblich mal rauskommen: Sie machen Ausflüge in die Umgebung von Bukarest und viele Outdoor-Aktivitäten in der Gruppe. „Das lenkt sie nicht nur ab, sondern sie können sich dabei auch wieder spüren“, so Doru.
Außerdem sei es wichtig, Kindern Möglichkeiten zur Partizipation zu geben. Das heißt für Doru konkret, mit den Mädchen und Jungen gemeinsam zu entwickeln, was sie brauchen, sie an der Gestaltung der Projekte zu beteiligen. Das hilft, aktiv zu werden und dadurch die Hilflosigkeit zu überwinden. „Wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen in den Projekten, das ist unser besonderer Ansatz.“ Für die meisten Kinder ist das allerdings zunächst ungewohnt: „Sie müssen erst mal lernen, herauszufinden, was ihnen guttut“, beobachtet Doru. Dabei helfen die unterschiedlichen Gesprächsgruppen in den Projekten: Es gibt Gruppen, in denen die Kinder für sich sind, Austauschformate für die Mütter und mit Müttern und Kindern zusammen. Und es gibt auch Gesprächsangebote für Lehrkräfte, damit sie verstehen, welche psychosoziale Unterstützung die Kinder brauchen. „Lehrkräfte werden dafür nicht ausgebildet“, sagt Camelia Doru.
Die kognitive Entwicklung vieler Kinder ist gestört, die Aggressivität gestiegen
Ziel dieses Ansatzes von ICAR ist es, Kinder zu empowern und ihre Resilienz zu stärken. Das ist es auch, was Olga Perekopaiko für Mädchen und Jungen anstrebt, die in der Ukraine geblieben sind. Die Kinderpsychologin arbeitet in Kyjiw an Schulen und sieht mit großer Sorge, was der langanhaltende Krieg für Auswirkungen hat: „Der kognitive Entwicklungsprozess ist gestört, Kinder sind sehr viel aggressiver geworden. Sie sind oft nicht in der Lage, ihrem Alter entsprechend zu kommunizieren.“ Sie müssten ihre Bedürfnisse ständig zurückstellen, weil andere Herausforderungen und Probleme im Vordergrund stehen.
Äußerlich haben sich die Menschen in der Ukraine zwar angepasst: Nach einem Bombenangriff würden die Trümmer gleich wieder weggeräumt und nach ein paar Stunden sei kaum noch etwas zu sehen, „aber Schmerz lässt sich nicht managen, und jeder Tag ist ein Kampf mit den Emotionen“, so Perekopaiko. Der sei immer da, und Kinder seien ihm in besonderer Weise ausgesetzt.
In dieser Situation hat Schule einen wichtigen Stellenwert, weil sie den Tagesablauf strukturiert, Stabilität gibt und einen Ort der Sicherheit bietet – zumindest soweit das möglich ist. Fast 3 800 Bildungseinrichtungen sind nach Unicef-Angaben beschädigt oder zerstört, davon mindestens 1 300 Schulen. Jede fünfte Schule muss zudem schließen, weil sie keine sicheren Schutzräume bietet. Nur die Hälfte der 3,9 Millionen Schülerinnen und Schüler, die noch im Land sind, können daher heute eine Schule besuchen. Die Lehrkräfte berichten von massiven Lernrückständen. Aus Olga Perekopaiikos Sicht resultieren die aber auch aus einer wachsenden Nervosität bei Kindern: „Bei jedem Flugzeug, bei jedem ähnlichen Geräusch haben Kinder Angst und reagieren auch physisch: Sie können nicht schlafen und haben wachsende Konzentrationsprobleme.“
Die Dunkelziffer der nach Russland entführten Kinder ist hoch
Überall, wo es möglich ist, versuchen die Schulen aber zu öffnen, sagt die Kinderpsychologin, um möglichst vor Ort für die Kinder da zu sein – selbst wenn der Unterricht in Bunker-Schulen stattfinden muss. Die Lehrerinnen und Lehrer hätten gelernt, flexibel zu reagieren, wenn zum Beispiel mal wieder der Strom ausfällt. Sie betont aber auch, welch hohe Belastung das alles für die Lehrkräfte bedeutet. Viele seien am Rande eines Burnouts.
Aber nicht nur das Recht auf Bildung wird im Krieg verletzt, ebenso Rechte, die Gesundheit, Kindeswohl und Lebensbedingungen betreffen. Der Schutz vor Gewalt oder der Schutz auf der Flucht sind nicht gewährleistet. Das belegen auch Zahlen, die Yevgenij Zakharov von der Kharkiv Human Rights Protection Group (KHRPG) bei der Konferenz in Berlin vorstellte: zum Beispiel Zahlen zu verschwundenen Kindern und zu Fällen sexualisierter Gewalt. Die ukrainische Menschenrechtsorganisation KHRPG sammelt seit Kriegsbeginn Daten zu Menschenrechtsverletzungen, bringt sie an die Öffentlichkeit, bietet Opfern Rechtsbeistand und reicht Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Laut KHRPG sind allein im Raum Kharkiv seit Kriegsbeginn 1 899 Personen verschwunden, 69 von ihnen waren Kinder.
Wie viele Kinder tatsächlich aus den besetzten Gebieten nach Russland verschleppt wurden, lässt sich allerdings nicht verlässlich beziffern. Die Ukraine ging bereits ein Jahr nach Kriegsbeginn von 16 000 Kindern aus, andere Schätzungen nennen heute die Zahl 20 000, die Dunkelziffer könnte noch weit höher liegen. Entführungen gehören zu den schwersten Kinderrechtsverletzungen in bewaffneten Konflikten.
Die Kindernothilfe hat bereits 2023 in einer Studie Fälle von Verschleppungen dokumentiert. Und in einer zweiten qualitativen Studie hat sich die Kinderrechtsorganisation mit sexualisierter Gewalt im Krieg gegen die Ukraine befasst. Dafür hat sie Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Mitarbeitenden von NGOs und staatlichen Institutionen geführt. Verlässliche Zahlen gibt es hier nicht, aber es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Es gibt wenig Daten aus den besetzten Gebieten, Eltern haben Angst vor den Folgen, wenn sie diese Fälle zur Anzeige bringen, und Familien fürchten eine Stigmatisierung.
Eines wurde auf der Konferenz sehr deutlich: Nach fast drei Jahren Krieg in der Ukraine ist nicht nur das Land am Rand seiner Kräfte, sondern auch die Belastbarkeit der Menschen im Land und an den Fluchtorten. Die psychosoziale Unterstützung darf daher kein nebensächliches Thema sein, sondern ist ein ganz zentraler Punkt, vor allem auch für die Stärkung der Kinder. Wenn im kommenden Jahr die dritte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz stattfindet, sollte das unbedingt im Blick bleiben, forderten auch die Teilnehmenden der Berliner Konferenz.