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Fast zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Darum brauchen die Kinder auf der Flucht die Weihnachtsspenden von WAZ und Kindernothilfe immer noch
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Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Für Kinder "wie ein ganzes Leben"

Text: Annika Fischer, Fotos: Jakob Studnar/Kindernothilfe

Charkiw/Essen Weihnachtsspendenaktion: Im WAZ-Videotalk erzählt Lana Solapanova, wie Charkiw die Schule und auch das Fest unter die Erde verlegt.

Die erste Antwort von Lana Solapanova ist sprachlos, und doch sagt sie viel: Aus Charkiw, Ukraine, kommt ein schwerer, langer Seufzer. „Wie geht es dir?“, hat WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock gefragt. In einer Sonderausgabe seines Videotalks ist die Programm-Managerin des Kindernothilfe-Partners „Myrne Nebo“ zugeschaltet, zum zweiten Mal nach einem Jahr. „So viele Hoffnungen...“, sagt Lana nach einer Pause. „So lange Zeit. So viel Arbeit. Aber wir sind noch stark!“ Auch bald zwei Jahre nach Kriegsbeginn kämpft die Hilfsorganisation für „ein schönes Ziel: Wenn die Menschen noch Träume haben und es ihren Kindern schön machen wollen – dafür tun wir alles, was möglich ist.“

Neulich haben sie den Kinder im Schutzzentrum von Charkiw gesagt, sie sollten diese Träume malen. Lana Solapanova holt eines der Bilder aus ihrem Schreibtisch hervor und hält es in die Kamera: ein Friedenszeichen in Blau und Gelb, vor der ukrainischen Fahne. Es hilft auch nicht, wenn sie den Kindern sagen, dann zeichne doch „etwas Schönes“, vielleicht einen Hund? Das nächste Bild zeigt wieder die Flagge – und einen Minensuchhund. „Sie malen Krieg und Militär“, sagt Lana mit feuchten Augen. „Dabei sollten Kinder jetzt Wunschzettel schreiben. Malen, was Santa, der Weihnachtsmann, bringen soll.“

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Die Kinder von Charkiw "hören jeden Tag den Krieg"

Aber solche Traditionen sind schon fast vergessen in der Ukraine. „Das letzte Weihnachten war ja schon genauso.“ Wie alle Geburtstage, wie überhaupt jeder Tag. Der Name der Hilfsorganisation, „Myrne Nebo“, heißt übersetzt „Friedlicher Himmel“, nur ist der Himmel über Charkiw, dieser Stadt zwischen Frontlinie und russischer Grenze, nicht friedlich, nie: Solaponava erzählt von Sirenen, „täglich“, und Angriffen, „ständig“. „So viele Bomben jeden Tag“, auch Artillerie, die Stadt sei „immer unter Beschuss“: „Wir hören jeden Tag den Krieg.“

Für Kinder sei das „das Schlimmste, was passieren kann“, und doch haben sie sich daran gewöhnt. Die Menschen versuchten das alle, sagt Lana Solapanova: „Die Wirklichkeit als Routine zu begreifen.“ Einkaufen, arbeiten, weiterleben, man riskiere immer mehr. „Wir probieren, den Krieg nicht mehr zu fühlen.“ Und die Kinder in einem „psychisch normalen Zustand“ zu halten, irgendwie. Gerade die kleinen Kinder „können sich nicht erinnern, wie es anders sein kann“, sie wissen nicht mehr, „was ein normales Leben ist“. Wenn Lana sie fragen würde, ob sie sich wünschten, dass der Krieg vorbei ist – sie würden die Frage nicht verstehen. „Zwei Jahre sind für die Kleinen wie ein ganzes Leben.“


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Mehr als 50.000 Menschen in der Region haben keinen Strom und keine Heizung

In der letzten Woche war es wieder ganz schlimm, „keiner konnte schlafen, es war so laut“. Seither hat die ganze Region Probleme mit dem Funknetz. Lana Solapanova ist online für das Gespräch mit der WAZ, die Leitung hält, sie zeigt in den Raum: „Ich habe heute Licht und Heizung hier.“ Mehr als 50.000 Menschen in der Region hätten das nicht. Viele heizen mit Holz, und Holz gibt es genug in der Gegend. „Aber das geht natürlich nicht in den modernen Häusern in der Stadt.“ Im tief verschneiten Charkiw sind es gerade minus zehn Grad.

Und die Sache mit dem Internet ist mehr als ein Randproblem: Auch die Leute von Myrne Nebo hätten sich Sorgen gemacht, dass die Kinder nur noch digital unterwegs seien. „Aber das ist die Lösung“, hat Lana Solapanova erkannt, „ohne mobile Netzwerke ist es schwierig zu überleben.“ Im Netz können sie den Kindern die Illusion geben, „dass die Welt bunt und schön ist“. Sie vermissten ihre Väter, Oma und Opa, die Freunde. Sie hören das oft: „Alle meine Freunde sind weg, mit ihnen war das Leben besser.“ Der Online-Kontakt helfe, alte Freunde zu treffen und neue zu finden. „Sie spielen und kommunizieren, weil es offline keine Möglichkeiten gibt.“ Und es laufen Schulprogramme, nicht nur Matheunterricht, die „das Leben verbessern“: „Wir bringen den Kindern bei, wie sie Minen im Boden erkennen.“

Ohnehin, die Schule. Seit zwei Jahren gibt es keine mehr für die 200.000 Kinder in Charkiw und dem Umland. Keine Schule, kein Kindergarten, und vorher war ja schon Corona. Die Gebäude sind zerstört, die Lehrer fehlen, die Kinder sind fort oder kommen kaum noch aus dem Haus. Die Stadt hat inzwischen eine „Schule“ in einer U-Bahn-Station eingerichtet, aber hier haben nur 2000 Kinder Platz, das ist gerade einmal ein Prozent. Viele kommen ohnehin nicht hin: kein Auto, kein Bus, zu viel Angst, auf die Straße zu gehen.

Hier unten wird Myrne Nebo auch versuchen, ein bisschen Weihnachten zu feiern, einen Baum aufzustellen, „alles im Untergrund“ – „damit die Kinder fühlen, dass sie ein normales Leben haben“. Das Wort „fühlen“ sagt Lana Solapanova oft, es ist wichtig in Zeiten, in denen die Realität nicht auszuhalten ist. Die Kinder sollen das Gefühl haben, „dass Weihnachten etwas Schönes und Frohes in unseren Herzen ist“. Die meisten, das wissen die Helfer sicher, werden auch zu diesem Fest ohne Baum und Geschenke sein.


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Zu Weihnachten bringen Helfer den Kindern Süßigkeiten - trotz des Risikos

Deshalb werden sie in den nächsten Tagen auch weiter so viele Familien besuchen, wie es geht, es sind mehr als tausend. Lana Solapanova zeigt Handyfotos, die dankbaren Gesichter geben ihr die Kraft weiterzumachen. Die Leute von Myrne Nebo werden den Menschen „bringen, was sie brauchen“, und den Kindern Süßigkeiten. Sie gehen dafür „ein großes Risiko“ ein, jeden Tag, für die Chefin sind sie „wirkliche Helden, sie haben ein großes Herz“.

In diesem Jahr haben sie sich vermehrt auch um die Eltern gekümmert. Mütter meistens, die allein geblieben sind, die „allein mit der Wirklichkeit kämpfen“. Denn sie haben begriffen: „Wenn Eltern keine Hoffnung haben, nur Nachrichten hören und Druck fühlen, dann fühlen die Kinder das auch.“ Jetzt kommen auch die Mütter zur Gruppentherapie, basteln, reden, bekommen Hilfe bei der Jobsuche. „Wenn sie wieder hoffen, geht es den Kindern auch besser.“
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Mutter in Charkiw: "Niemand wird uns diese zwei Jahre zurückgeben"

Lana Solapanova ist selbst Mutter, wie hält sie das alles aus? Die 48-Jährige überlegt. Sie könne jetzt schon so lange nicht mit ihrem Sohn zusammen sein, der allein in Österreich ist, nicht mit ihren Eltern. „Wir haben uns alle ein bisschen verloren.“ Auch die Alten litten, für sie sei ein neuer Krieg „eine große Katastrophe“, dem Sohn habe er „die Kindheit genommen“. Und eines sei klar: Der Krieg ist noch nicht vorbei. „Wir haben verstanden, dass das alles lange dauern kann. Aber es dauert zu lange.“

Es ist der Tag, an dem die Ukraine erneut 82 Gefechte meldet: einen Großteil davon in der Region um Charkiw.
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Über die Autorin

Portrait Annika Fischer (Quelle: Kai Kitschenberg/ FUNKE Foto Services)
Annika Fischer
Annika Fischer ist Reporterin und war mit der Kindernothilfe seit 2008 in Bangladesch, Guatemala, dem Libanon und Äthiopien.

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