Auf den Straßen von Südafrika: Ein Plan fürs Leben
Lungi: "Ich bin wie eine Mutter für sie"
Text: Lorenz Töpperwien
Lungi lebt für ihre Arbeit. Ihre Arbeit sind die Straßenkinder von Pietermaritzburg in Kwazulu Natal/Südafrika. Die betreut sie im Auftrag des Kindernothilfe-Partners Youth for Christ (YfC). Die 20-Jährige, die selbst aus einem armen Elternhaus kommt, hat ein klares Ziel: Sie will möglichst viele ihrer Schützlinge von der Straße holen. Und sie weiß jetzt, dass sie das kann.
Am Gitterzaun steht ein Junge, er ist vielleicht zwölf Jahre alt. In der Hand hält er eine durchsichtige Plastiktüte mit einer schmutzig-gelben Flüssigkeit darin. Ab und zu riecht er daran, sein Gesicht ist ausdruckslos. Er trägt verdreckte Kleider und ist barfuß. Hinter dem Zaun liegt ein Parkplatz. Darauf steht nichts außer einem unscheinbaren braunroten Schiffscontainer. Dieser Container, aufgestellt von Youth for Christ, ist für die Straßenkinder von Pietermaritzburg der wahrscheinlich einzige sichere Zufluchtsort in der ganzen Stadt.
In dem Container sitzt Lungi und spielt Karten mit zwei Jungen. Manchmal zögern die beiden, welche Karte sie legen sollen, aber die Stimmung ist bestens. Die Drei kennen sich gut. Man merkt sofort, dass sie nicht zum ersten Mal miteinander spielen. Niemand stört sie. Sie sitzen in dem spartanisch eingerichteten Container und vertreiben sich die Zeit.
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird jedem sofort klar, der sich in der Stadt umsieht. Pietermaritzburg ist die Hauptstadt des südafrikanischen Bundesstaats Kwazulu Natal und wirkt auf den ersten Blick recht wohlhabend. Es gibt belebte Geschäftsstraßen, ruhige Nebenstraßen, in denen villenartige Wohnhäuser mit Gärten liegen. Es gibt Schulen und Bürohäuser. Und es gibt die Straßenkinder, die niemand haben will.
Mittlerweile ist die 20-Jährige schon im zweiten Praktikumsjahr, für das sie sich noch einmal ausdrücklich bewerben musste. YfC gesteht das zweite Jahr nur zu, wenn die Betreffenden außergewöhnlich großes Engagement zeigen und ein eigenes Projekt vorstellen, das sie umsetzen wollen. Für ihre weitere Zukunft hat Lungi klare Pläne: Sie möchte Sozialarbeit studieren. Sie ist die Einzige in der Familie, die Geld verdient. Ihre Arbeit macht sie glücklich, sie hat ein Dach über dem Kopf und jeden Tag zu essen. Genau das will sie auch „ihren“ Straßenkindern ermöglichen.
„Die Abhängigkeit von der Billigdroge ist eines der größten Probleme unserer Arbeit“, sagt Greg. Die Kinder kommen zum Container, erzählt er, und sie kommen gern, aber Klebstoff ist dort verboten. Also gehen sie zwischendurch immer wieder an den Zaun am Rand des Parkplatzes, schnüffeln und kommen high zurück. „Problem Nummer zwei: Sie wollen nicht zurück nach Hause“, ergänzt Greg. „Beides zusammen – die Sucht und das Gefühl der Freiheit auf der Straße – macht es schwer, sie aus ihrem Elend herauszuholen.“
Der Klebstoff hilft den Kindern über ihre Verzweiflung hinweg. Ihr Leben ist ein ständiges Risiko, extrem anstrengend und ohne jede Hoffnung. Besonders bei Dunkelheit werden sie leicht Opfer von Gewalt. „In der Nacht hast du keine Freunde mehr“, sagt Lungi. Sie und ihre Kollegen arbeiten auch manchmal nachts – sie weiß also, wovon sie redet.
Auszeit vom täglichen Überlebenskampf
Mittlerweile ist Lungi bei den Straßenkindern von Pietermaritzburg bekannt. Wenn sie durch das Viertel geht, grüßt sie nach allen Seiten und wird häufig von Kindern gerufen. Von jedem Mädchen und Jungen kennt sie den Namen und die Geschichte, und sie genießt Vertrauen und Respekt. Angst scheint es für sie nicht zu geben, sie ist stark und zielstrebig. „Ich bin wie eine Mutter für sie“, sagt sie mit einem Lächeln – das ist die Rolle, die sie sich für ihr Leben ausgesucht hat.Besonders berührt hat sie das Mädchen Liyana, das nicht gehen konnte. Auch die Hände konnte Liyana nicht richtig bewegen. Warum? Weil das viele Klebstoff-Schnüffeln sie gelähmt hatte. Lungi hat sich ihrer angenommen, hat sie mit Engelsgeduld davon überzeugt, dass sie sich im Krankenhaus behandeln lassen muss, ist regelmäßig mit ihr zur Behandlung gegangen, hat sie, wenn sie störrisch wurde, ermahnt, an ihre Zukunft zu denken – wie eine richtige Mutter eben. Heute kann Liyana wieder gehen und ihre Hände benutzen, die Abhängigkeit vom Klebstoff hat sie überwunden. Nur zu ihrer Familie will sie nicht zurückkehren – und lebt noch auf der Straße. Das ist gefährlich, weil sie rückfällig werden kann, findet Lungi, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Liyana von der Straße holt.
Beim Container sind mittlerweile – es geht gegen Mittag – immer mehr Kinder und Jugendliche zusammengekommen, überwiegend Jungen. Sie spielen Fußball – der eine in Latschen, der andere in löchrigen Socken, die meisten barfuß. Sie spielen gut, zeigen technische Kunststückchen, sind ganz bei der Sache. Niemand geht zwischendurch raus an den Zaun, um zu schnüffeln. Das Spiel ist eine Auszeit vom täglichen Überlebenskampf. Lungi und Greg schauen zu. „Wir tun eigentlich nichts Besonderes“, sagt Lungi. „Wir behandeln sie wie Menschen. Deshalb kommen sie hierher.“
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Über den Autor
"Die Stimme derjenigen, die noch keine Stimme haben"
Text: Sarah Plate
Von fehlenden Zukunftsperspektiven sind in Südafrika besonders junge Menschen betroffen. Die Kindernothilfe-Partnerorganisation Youth for Christ (YfC) versucht der starken Jugendarbeitslosigkeit mit ihrem Praktikanten-Programm entgegenzuwirken und motiviert junge Leute wie Lungi.
Bathandwa begrüßt die rund 50 Kinder, die vor ihm sitzen: „Sanibonani“ – „Hallo zusammen“ auf IsiZulu. Es folgen einige Lockerungsübungen und Tänze. Dann wird es still in der Hütte: Bathandwa, Praktikant im ersten Jahr, spricht mit den Kindern über „Commitment“ („Hingabe“). Er fragt sie, was sie darunter verstehen. Nach einer kurzen Diskussion erklärt er ihnen, dass sie an ihren Träumen festhalten sollen und hart dafür arbeiten müssen, ihre Ziele zu erreichen. Gebannt lauschen sie Bathandwas Worten. Jeden Tag kommen rund 50 Kinder nach der Schule in das kleine Community Center. Sie leben alle im Township Swapo, in mehr oder weniger provisorischen Hütten ohne fließendes Wasser. Im Community-Center können sie spielen. Bathandwa und die anderen Mitarbeiter helfen ihnen bei den Hausaufgaben und sprechen mit ihnen über Probleme in der Schule oder zu Hause. „Wir wollen für sie da und gemeinsam mit ihnen aktiv sein, damit sie nicht auf der Straße landen.“ Bathandwa nimmt seine Aufgabe sehr ernst: Jeden Tag ist er für die Kinder da, schließt nebenher noch sein Studium in Humanitärem Management ab und entwickelt ein eigenes Projekt: eine informelle Schule für die besonders benachteiligten Kinder des Viertels. „Das ist, was ich den Rest meines Lebens machen möchte“, sagt er voller Zuversicht.
Laute Musik dröhnt aus den Lautsprechern. Die „Change Agents“ (zu Deutsch: „Erneuerer“), das sind acht junge Menschen in schwarzen T-Shirts, springen auf die Bühne, tanzen, animieren ihr Publikum. Die Menge, rund 100 Schüler, tobt! Dann plötzlich wechselt die Musik, es wird sehr ruhig. Nach und nach berichten sie von je einem Schicksal: Alkoholismus, HIV, Abtreibung, Drogen … Jeder endet mit der Phrase: „But this was my choice, what will yours be?“ – „Doch das war meine Wahl, was wird deine sein?“
Ein Praktikum fürs Leben: Mit YouTubern in Südafrika
www.kindernothilfe.de/dillanundshanti