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Auf den Straßen von Südafrika: Ein Plan fürs Leben

Südafrika ist die zweitgrößte Volkswirtschaft des Kontinents. Die Apartheid – auf dem Papier – seit 1994 Geschichte. Trotz der politischen und wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte, sind Armut und Perspektivlosigkeit noch immer allgegenwärtig – besonders bei der jungen schwarzen Bevölkerung. Die Kindernothilfe-Redaktion hat Projekte in Durban und Pietermaritzburg besucht, deren Mitarbeiter sich um jene Kinder und Jugendliche kümmern, die besonders unter diesen Umständen leiden.
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Lungi: "Ich bin wie eine Mutter für sie"

Reportage: Auf den Straßen von Südafrika; Foto: Sozialarbeiterin Lungi in Gruppe von Menschen (Quelle: Dillan White / Kindernothilfe)
Auf den Straßen von Pietermaritzburg trifft Lungi die Straßenkinder und gewinnt ihr Vertrauen (Foto: Dillan White/Sarah Plate). 
Reportage: Auf den Straßen von Südafrika; Foto: Sozialarbeiterin Lungi in Gruppe von Menschen (Quelle: Dillan White / Kindernothilfe)
Auf den Straßen von Pietermaritzburg trifft Lungi die Straßenkinder und gewinnt ihr Vertrauen (Foto: Dillan White/Sarah Plate). 

Text: Lorenz Töpperwien

Lungi lebt für ihre Arbeit. Ihre Arbeit sind die Straßenkinder von Pietermaritzburg in Kwazulu Natal/Südafrika. Die betreut sie im Auftrag des Kindernothilfe-Partners Youth for Christ (YfC). Die 20-Jährige, die selbst aus einem armen Elternhaus kommt, hat ein klares Ziel: Sie will möglichst viele ihrer Schützlinge von der Straße holen. Und sie weiß jetzt, dass sie das kann.

Am Gitterzaun steht ein Junge, er ist vielleicht zwölf Jahre alt. In der Hand hält er eine durchsichtige Plastiktüte mit einer schmutzig-gelben Flüssigkeit darin. Ab und zu riecht er daran, sein Gesicht ist ausdruckslos. Er trägt verdreckte Kleider und ist barfuß. Hinter dem Zaun liegt ein Parkplatz. Darauf steht nichts außer einem unscheinbaren braunroten Schiffscontainer. Dieser Container, aufgestellt von Youth for Christ, ist für die Straßenkinder von Pietermaritzburg der wahrscheinlich einzige sichere Zufluchtsort in der ganzen Stadt.

In dem Container sitzt Lungi und spielt Karten mit zwei Jungen. Manchmal zögern die beiden, welche Karte sie legen sollen, aber die Stimmung ist bestens. Die Drei kennen sich gut. Man merkt sofort, dass sie nicht zum ersten Mal miteinander spielen. Niemand stört sie. Sie sitzen in dem spartanisch eingerichteten Container und vertreiben sich die Zeit.

Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird jedem sofort klar, der sich in der Stadt umsieht. Pietermaritzburg ist die Hauptstadt des südafrikanischen Bundesstaats Kwazulu Natal und wirkt auf den ersten Blick recht wohlhabend. Es gibt belebte Geschäftsstraßen, ruhige Nebenstraßen, in denen villenartige Wohnhäuser mit Gärten liegen. Es gibt Schulen und Bürohäuser. Und es gibt die Straßenkinder, die niemand haben will.

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Reportage: Auf den Straßen von Südafrika; Foto: Zwei Straßenkinder vor einer Mauer  (Quelle: Sarah Plate / Kindernothilfe)
Straßenkinder in Pietermaritzburg (Foto: Sarah Plate).
Reportage: Auf den Straßen von Südafrika; Foto: Zwei Straßenkinder vor einer Mauer  (Quelle: Sarah Plate / Kindernothilfe)
Straßenkinder in Pietermaritzburg (Foto: Sarah Plate).
„Manche Ladenbesitzer vertreiben sie mit Stöcken, wenn sie sich nähern“, erzählt Lungi. „Einem Mädchen hat jemand kürzlich sogar Pfefferspray ins Auge gesprüht, obwohl es nichts getan hat.“ Tagsüber sind die Kinder viel unterwegs. Sie versuchen, etwas zu essen aufzutreiben, betteln um Geld oder treffen sich an Orten, an denen man sie in Ruhe lässt. Für die Nacht suchen sie sich einen Ort zum Schlafen. So versuchen sie, irgendwie zu überleben.
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"Ich verstehe ihre Gedanken"

„Seit ich bei YfC arbeite, verstehe ich, warum sie auf der Straße leben“, sagt Lungi. „Ich verstehe ihre Gedanken.“ Das war früher anders. Noch vor zwei Jahren hätte sie sich im Traum nicht vorstellen können, das zu tun, was sie heute tut. Sie war schrecklich schüchtern, verbrachte viel Zeit zu Hause und traute sich noch nicht einmal, zum Gottesdienst in die Kirche zu gehen. Dann, nach dem Schulabschluss, erzählte ihr eine Freundin von YfC. Sie sah sich an, was die Organisation in Pietermaritzburg und Durban für Straßenkinder leistet. Das überzeugte sie so nachhaltig, dass sie ihre Schüchternheit über Bord warf und sich als Jahrespraktikantin bei YfC bewarb – und angenommen wurde. „Das war das großartigste Ereignis in meinem ganzen Leben“, erinnert sie sich.

Mittlerweile ist die 20-Jährige schon im zweiten Praktikumsjahr, für das sie sich noch einmal ausdrücklich bewerben musste. YfC gesteht das zweite Jahr nur zu, wenn die Betreffenden außergewöhnlich großes Engagement zeigen und ein eigenes Projekt vorstellen, das sie umsetzen wollen. Für ihre weitere Zukunft hat Lungi klare Pläne: Sie möchte Sozialarbeit studieren. Sie ist die Einzige in der Familie, die Geld verdient. Ihre Arbeit macht sie glücklich, sie hat ein Dach über dem Kopf und jeden Tag zu essen. Genau das will sie auch „ihren“ Straßenkindern ermöglichen.
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"In der Nacht hast du keine Freunde mehr"

Das erfordert viel Mut und Kraft und Ausdauer. Mit ihrem Kollegen Greg, einem Amerikaner, der seit mehr als vier Jahren zum YFC-Team gehört, ist sie jede Woche in der Stadt unterwegs und kümmert sich um die Straßenkinder von Pietermaritzburg. Sie sieht, wie sie unter einem abgewrackten LKW-Anhänger Zuflucht suchen, weil die Hütten, die sie sich gebaut haben, vom Regen weggespült wurden. Sie findet sie an einer Mauer in der Nähe einer öffentlichen Toilette und beschwichtigt die Toilettenfrauen, die die Kinder verjagen wollen, weil sie so viel Dreck machen. Sie versucht, zu den Mädchen und Jungen durchzudringen, auch wenn sie betäubt vom Klebstoffschnüffeln sind.

„Die Abhängigkeit von der Billigdroge ist eines der größten Probleme unserer Arbeit“, sagt Greg. Die Kinder kommen zum Container, erzählt er, und sie kommen gern, aber Klebstoff ist dort verboten. Also gehen sie zwischendurch immer wieder an den Zaun am Rand des Parkplatzes, schnüffeln und kommen high zurück. „Problem Nummer zwei: Sie wollen nicht zurück nach Hause“, ergänzt Greg. „Beides zusammen – die Sucht und das Gefühl der Freiheit auf der Straße – macht es schwer, sie aus ihrem Elend herauszuholen.“

Der Klebstoff hilft den Kindern über ihre Verzweiflung hinweg. Ihr Leben ist ein ständiges Risiko, extrem anstrengend und ohne jede Hoffnung. Besonders bei Dunkelheit werden sie leicht Opfer von Gewalt. „In der Nacht hast du keine Freunde mehr“, sagt Lungi. Sie und ihre Kollegen arbeiten auch manchmal nachts – sie weiß also, wovon sie redet.

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Auszeit vom täglichen Überlebenskampf

Mittlerweile ist Lungi bei den Straßenkindern von Pietermaritzburg bekannt. Wenn sie durch das Viertel geht, grüßt sie nach allen Seiten und wird häufig von Kindern gerufen. Von jedem Mädchen und Jungen kennt sie den Namen und die Geschichte, und sie genießt Vertrauen und Respekt. Angst scheint es für sie nicht zu geben, sie ist stark und zielstrebig. „Ich bin wie eine Mutter für sie“, sagt sie mit einem Lächeln – das ist die Rolle, die sie sich für ihr Leben ausgesucht hat.

Besonders berührt hat sie das Mädchen Liyana, das nicht gehen konnte. Auch die Hände konnte Liyana nicht richtig bewegen. Warum? Weil das viele Klebstoff-Schnüffeln sie gelähmt hatte. Lungi hat sich ihrer angenommen, hat sie mit Engelsgeduld davon überzeugt, dass sie sich im Krankenhaus behandeln lassen muss, ist regelmäßig mit ihr zur Behandlung gegangen, hat sie, wenn sie störrisch wurde, ermahnt, an ihre Zukunft zu denken – wie eine richtige Mutter eben. Heute kann Liyana wieder gehen und ihre Hände benutzen, die Abhängigkeit vom Klebstoff hat sie überwunden. Nur zu ihrer Familie will sie nicht zurückkehren – und lebt noch auf der Straße. Das ist gefährlich, weil sie rückfällig werden kann, findet Lungi, doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Liyana von der Straße holt.

Beim Container sind mittlerweile – es geht gegen Mittag – immer mehr Kinder und Jugendliche zusammengekommen, überwiegend Jungen. Sie spielen Fußball – der eine in Latschen, der andere in löchrigen Socken, die meisten barfuß. Sie spielen gut, zeigen technische Kunststückchen, sind ganz bei der Sache. Niemand geht zwischendurch raus an den Zaun, um zu schnüffeln. Das Spiel ist eine Auszeit vom täglichen Überlebenskampf. Lungi und Greg schauen zu. „Wir tun eigentlich nichts Besonderes“, sagt Lungi. „Wir behandeln sie wie Menschen. Deshalb kommen sie hierher.“
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Lorenz Töpperwien (Quelle: Jakob Studnar)
Lorenz Töpperwien ist Social Media-Manager bei der Kindernothilfe und begleitet u. a. Reportage-Reisen in unsere Projekte. 

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