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Honduras: Abgeschoben und obdachlos – die Casa Alianza als letzte Zuflucht

Text: Katharina Nickoleit, Fotos: Christian Nusch

Wenn von Migration die Rede ist, denkt man meistens an Erwachsene. Doch auch viele Kinder und Jugendliche in Honduras machen sich mit und ohne Eltern auf den Weg in die USA. Wenn sie abgeschoben werden, ist der Kindernothilfe-Partner Casa Alianza oft ihre letzte Zuflucht.

Im Zentrum der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa steht eine von hohen, mit Stacheldraht gekrönten Mauern umgebene Festung. An den stabilen Eisentoren sind Wachen, die die Anweisung haben, jedes Kind, das Hilfe braucht, sofort hineinzulassen. In Tegucigalpa leben viele Kinder auf der Straße, sie sind der Willkür der Behörden und der Geschäftsleute ausgeliefert, die die „herumlungernden“ Kinder nicht in ihren Vierteln sehen möchten.

Hinter dem Tor ist es, als beträte man eine andere Welt. Das Chaos und der Dreck der Straße bleiben draußen. Mädchen und Jungen spielen am Kicker oder schaukeln unter einem grünen Baum. Es gibt lange Tische, an denen jedes Kind so lange essen kann, bis es satt ist. Und für die rund 100 Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 19 Jahren, die permanent hier leben, weil es für sie zu Hause zu gefährlich ist, Schlafsäle mit weichen Betten. Einer von ihnen ist Angel (gesprochen: Anchél). Er war 15, als ihm klar wurde, dass er möglichst schnell möglichst weit weg gehen musste. „Unser Barrio (Stadtviertel) wird von einer Mara, einer kriminellen Jugendbande beherrscht, die mit Drogen handelt und Schutzgelder erpresst. Eines Tages kam der Anführer zu mir und stellt mich vor die Wahl: Entweder ich werde Mitglied oder sie bringen mich um.“ Angel packte einen Rucksack, verabschiedete sich von seinen Eltern und machte sich auf den Weg in den Norden.

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Eingang zur Casa Alianza (Quelle: Christian Nusch)
In der Casa Alianza finden Jugendliche ein neues Zuhause (Quelle: Christian Nusch) 
Eingang zur Casa Alianza (Quelle: Christian Nusch)
In der Casa Alianza finden Jugendliche ein neues Zuhause (Quelle: Christian Nusch) 

Angel floh, weil er mit dem Tod bedroht wurde

Dass Jugendliche wie Angel aus Angst vor Gewalt fliehen müssen, ist in Mittelamerika keine Seltenheit. Doch auch sonst vollzieht sich in der Region ein Exodus. Weil sie in ihrer von Armut und Kriminalität gebeutelten Heimat keine Zukunftsperspektive sehen, machen sich jeden Monat Tausende Menschen auf den Weg in die USA. Ein Viertel von ihnen nimmt seine Kinder mit. Oft sind auch Kinder und Jugendliche alleine unterwegs, die ihren Eltern nachreisen. Während Familien mit Kindern und unbegleitete Jugendliche bis vor Kurzem noch Chancen hatten, in den USA bleiben zu dürfen, werden inzwischen auch sie ohne große Umstände abgeschoben. Eigentlich sollten an der Grenze Asylverfahren stattfinden.

Viele Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler sind der Ansicht, dass nicht nur staatliche Verfolgung, sondern auch die Flucht vor extrem gewalttätiger Kriminalität ein anerkannter Fluchtgrund sein sollte. Doch dem ist nicht so. Selbst ein Junge wie Angel, der ganz konkret mit dem Tod bedroht wird, wird abgeschoben. Für den heute 19-Jährigen war das eine weitere traumatische Erfahrung. „Ich fühlte mich zurückgestoßen und von allen verlassen. Ich war so lange und so weit gereist, um Schutz zu finden, und dann schickte man mich einfach zurück.“ Doch wohin? Einmal ins Visier der örtlichen Jugendbande geraten, könnte Angel in seinem alten Viertel nicht überleben. Der einzige Ausweg: die Casa Alianza.

Die Casa Alianza kümmert sich zwar vorrangig um den Schutz von Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben, aber sie ist längst nicht nur ein einzelnes Haus, das Mädchen und Jungen Zuflucht bietet. Seit 1987 setzt sich die Hilfsorganisation für die Rechte und den Schutz von Kindern ein und wird dabei seit 2003 von der Kindernothilfe unterstützt. Das ist dringend nötig, denn in dem Land mit seinen rund neun Millionen Menschen, von denen etwa 40 Prozent unter 15 Jahre alt sind, leben mehr als drei Viertel der Kinder und Jugendlichen unterhalb der Armutsgrenze. Ihre Familien sind nicht immer in der Lage, ihre Grundbedürfnisse zu decken, und zudem kommt der Staat seinen Pflichten, jedem Menschen etwa das Recht auf Leben und Entwicklung zu gewährleisten, nicht hinreichend nach. Um den Kindern zu helfen, kümmern sich die Mitarbeitenden der Casa Alianza um besonders von Armut betroffene Familien. Unter diesen sind viele, die versuchten, ihrer Situation durch Migration in die USA zu entkommen und die nach der Abschiebung vor dem Nichts standen.


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Juli mit ihrer Schwester, zwei Cousins und einer Cousine, die ebenfalls bei ihrer Oma leben (Quelle: Christian Nusch)
Julia (l.) mit ihrer Schwester Fernanda (3. v. l.), ihrer Oma sowie zwei Cousins und einer Cousine (Quelle: Christian Nusch)
Juli mit ihrer Schwester, zwei Cousins und einer Cousine, die ebenfalls bei ihrer Oma leben (Quelle: Christian Nusch)
Julia (l.) mit ihrer Schwester Fernanda (3. v. l.), ihrer Oma sowie zwei Cousins und einer Cousine (Quelle: Christian Nusch)

Eineinhalb Stunden im Kofferraum eingesperrt

Zu ihnen gehören die drei Geschwister Carlos, Fernanda und Julia. „Wir haben im Fernsehen gesehen, dass sich eine Karawane von Geflüchteten formiert. Meine Mutter sagte: ‚Packt eure Sachen, wir gehen nach Norden‘“, erinnert sich die elfjährige Julia. „Der Grund dafür war die Armut, weil meine Mutter keine Arbeit fand“, ergänzt ihr 16-jähriger Bruder. Drei Jahre ist es her, dass sich die Familie auf den langen, gefährlichen Weg machte. Was die Geschwister von ihrer Odyssee erzählen, sollte kein Erwachsener und erst recht kein Kind erleben müssen. „Oft waren wir eine oder anderthalb Stunden in Kofferräumen eingesperrt. – Wir mussten auch sehr viel laufen, denn es gab nicht immer eine Transportmöglichkeit. Manchmal haben uns die Füße wehgetan, denn es ist sehr anstrengend, so viel zu laufen. – Einmal bin ich gefallen, als ich auf einen Pickup aufspringen wollte, und habe mich am Rücken verletzt. – Mal konnten wir das Geld zusammenkriegen, um etwas zu essen zu kaufen, mal nicht, dann mussten wir um Essen betteln.“

Doch all diese Strapazen waren vergebens. Die Familie wurde noch in Mexiko von der Polizei aufgegriffen und deportiert. Wieder zurück in Honduras stand sie vor dem Nichts. Ihre Hütte war verkauft, die Kinder hatten viel Schulstoff versäumt, und noch immer waren sie bitterarm. Um Geld zu verdienen, machte sich die Mutter erneut auf den Weg nach Norden, diesmal ließ sie die Geschwister bei der Großmutter zurück, die sie in ihrer winzigen Hütte aufnahm. Sie kümmert sich dort noch um drei weitere Enkel.

Von ihrer Mutter haben die Kinder seit Monaten nichts mehr gehört, doch glücklicherweise fiel die Familie Mitarbeitenden der Casa Alianza auf. Sie kümmerten sich darum, dass die Geschwister den verpassten Schulstoff nachholen konnten, und sorgten dafür, dass die Großmutter einen Ofen bekam, in dem sie Empanadas und andere Snacks backen kann. Die verkaufen die Kinder nach der Schule auf der Straße – so schafft es die Familie, sich zu ernähren, ohne dass die Kinder ihre Bildung aufgeben müssen. Alleine das ist schon ein Erfolg. Viele junge Honduranerinnen und Honduraner brechen schon während oder kurz nach der sechsjährigen Grundschulzeit den Schulbesuch ab, weil sie gezwungen sind, durch schlecht bezahlte, oft gefährliche Arbeiten zum Familieneinkommen beizutragen. Mangelnde Schulbildung zieht im Erwachsenenleben Armut nach sich – ein Teufelskreis.

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Carlos, Julias Bruder, lebt auch bei der Oma (Quelle: Christian Nusch)
Carlos ist Julias Bruder und lebt auch bei seiner Oma (Quelle: Christian Nusch)
Carlos, Julias Bruder, lebt auch bei der Oma (Quelle: Christian Nusch)
Carlos ist Julias Bruder und lebt auch bei seiner Oma (Quelle: Christian Nusch)

Junge Menschen leiden lange unter den Traumata einer Flucht

Seit vier Jahren ist die Casa Alianza in Tegucigalpa nun Angels Zuhause. Hier ist er sicher, hat ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Doch genauso wichtig wie all dies ist für den Jugendlichen etwas anderes: Es gibt hier jemanden, der ihm zuhört und ihm dabei hilft, die vielen schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. 

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Teresa del Carmen Ortiz, Psychologin der Casa Alianza (Quelle: Christian Nusch)
Teresa del Carmen Ortiz, Psychologin der Casa Alianza
„Vor allem Kinder und Jugendliche, die alleine unterwegs sind, leiden noch lange unter den Traumata, die diese Reise mit sich bringt. Unterwegs haben sie niemanden, der sich um sie kümmert und sie beschützt, sondern sind ganz auf sich gestellt. Sie fühlen sich hilflos und leben in ständiger Unsicherheit, Angst und Gefahr.“
Schlaflosigkeit und extreme Anspannung sind die Folgen der Traumata. Noch schlimmer ist es für diejenigen, die auf der Reise Gewalt erleben. Fast alle Mädchen erfahren sexuelle Gewalt, selbst dann, wenn sie mit ihren Eltern unterwegs sind. In den überfüllten Lastwagen und provisorischen Unterkünften gibt es keinen Schutz für sie. Die Jungen sind eher körperlicher Misshandlung ausgesetzt. Oder sie werden als Drogenkuriere missbraucht.

Als Gegenleistung dafür, dass Schlepper ihn an den Grenzposten vorbeischleuste, musste Angel einen 45 Kilo schweren Rucksack über die Grenze von Guatemala nach Mexiko bringen. „Zehn Tage lang habe ich ihn durch den Wald und über die Berge geschleppt. Oft wollte ich ihn absetzen und irgendwo stehen lassen, aber ich wusste, sie bringen mich um, wenn ich ohne den Rucksack ankomme.“ Angel wusste, wie gefährlich es ist, Drogen zu schmuggeln. Nicht nur deshalb, weil er von der Polizei erwischt werden könnte, sondern weil die Kuriere oft von den Mitgliedern rivalisierender Kartelle überfallen und ermordet werden. Aber er sah keine andere Möglichkeit, um über die Grenze zu kommen, ignorierte die Angst und tat, was er tun musste, um zu überleben.
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„Ich kann jetzt die Vergangenheit hinter mir lassen“

Es dauert mitunter Jahre, solche Traumata zu heilen. Aber mit viel Geduld kann es gelingen. „Früher musste ich ständig an all das denken, was mir passiert ist“, meint Angel. „Ich habe viele Stunden lang mit Teresa darüber gesprochen. Sie hat mir zugehört und mich verstanden. Heute denke ich nur noch selten daran und wenn, dann macht es mir keine Angst mehr. Ich kann jetzt die Vergangenheit hinter mir lassen und an die Zukunft denken.“ Und tatsächlich hat Angel eine Perspektive für die Zukunft, eine, die nicht mit der gefährlichen Reise in die USA zusammenhängt, sondern die reelle Chance, in Honduras ein Auskommen zu finden. Er geht zur Schule und wird nach seinem Abschluss eine Ausbildung als Mechaniker machen. „Ich werde zwar niemals in das Viertel meiner Eltern zurückkehren können, aber wenn ich meinen Beruf gelernt habe, kann ich woanders neu anfangen.“

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Armenviertel in der Hauptstadt (Quelle: Christian Nusch)
Armenviertel in der Hauptstadt (Quelle: Christian Nusch)
Armenviertel in der Hauptstadt (Quelle: Christian Nusch)
Armenviertel in der Hauptstadt (Quelle: Christian Nusch)

Wenn die Zukunft keine Bedrohung mehr ist

Die 18-jährige Carla verließ mit 14 Jahren ihr Heimatdorf: Die Chancen auf eine hochwertige Schulbildung waren in Tegucigalpa größer. Sie kam bei Verwandten unter – doch anstatt regelmäßig zur Schule zu gehen, wurde sie gezwungen, alle Hausarbeiten zu übernehmen. Nach kurzer Zeit entschied sie sich für ein Leben auf der Straße. 2016 wurde sie von Casa Alianza aufgenommen. Sie konnte zur Schule gehen, ihren Abschluss machen und entwickelte sich zu einer selbstbewussten jungen Frau. Zurzeit arbeitet Carla in einem Schönheitssalon und verdient ihr eigenes Geld. Sie denkt jedoch darüber nach, bald ein Studium zu beginnen. „Casa Alianza ist meine Familie geworden. Die Projektmitarbeitenden haben mir geholfen, wieder voller Enthusiasmus in die Zukunft zu blicken”, sagt Carla.

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Über die Autorin

Dilma, Joselia, Analiza, Sozialarbeiterin Ellen und Journalistin Katharina Nickoleit (Quelle: Christian Nusch)
Katharina Nickoleit ist freie Journalistin und berichtet oft gemeinsam mit ihrem Mann Christian Nusch aus unseren Projekten.

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