Kinderschutz in Zeiten von Corona
Interview: Ilka Hahn
Schulen und Kitas geschlossen, arbeiten im Homeoffice, soziale Kontakte unerwünscht: Bei Eltern liegen im Moment bisweilen die Nerven blank. Beengte Wohnverhältnisse und kriselnde Partnerschaften verschärfen das Risiko für Gewalt gegen Kinder. Diplom-Sozialpädagogin Katrin vom Hoff spricht im Interview über die Gefahr von Gewalt im Verborgenen, wie Jugendämter dennoch Kinder schützen – und was sie als Therapeutin überforderten Eltern und aufmerksamen Nachbarn rät.
Besuche bei Freunden oder den (Groß-)Eltern fallen sowohl für Eltern als auch für Kinder derzeit weg. Welche Rolle spielen soziale und familiäre Kontakte im Alltag?
Eine große! Gerade bei Familien fehlt aktuell die externe Entlastung von Freunden oder Familienmitgliedern – alle, die sonst zeitweise nach den Kindern schauen. Eltern sind jetzt immer unmittelbar gefordert und müssen alles alleine stemmen. Darüber hinaus fehlt die Korrektur von außen: Da ist niemand, der mal lobt oder auch bremst und sagt „Sei nicht so streng.“ Es fehlt Entlastung, Trost und Spaß sowohl für Kinder als auch für Erwachsene. Vieles, was sonst Sicherheit und Struktur gibt, ist weggefallen. Das sollte man als Familie offen besprechen. Es sind eben nicht Corona-Ferien: Schulaufgaben müssen gemacht werden, Eltern arbeiten im Homeoffice – und das alles auf engem Raum.
Sie bedienen unter anderem eine Familien-Hotline in Essen. Wer ruft dort aktuell an und was sind die häufigsten Probleme?
Es sind zum Beispiel Kinder, die um Hilfe bei den Hausaufgaben bitten oder Eltern, die gebrochen deutsch sprechen, und ihren Kindern bei den Aufgaben nicht helfen können. Die Schule ist ohnehin eine große Herausforderung. Es schwingen ganz andere Beziehungsaspekte mit, wenn Eltern ein Kind kritisieren als wenn ein Lehrer das macht. Eltern sind oft viel ungeduldiger und Kinder viel verletzbarer.
Ist Schule das Hauptproblem?
Nein. Es rufen auch Eltern an, die sich beispielsweise Sorgen machen, dass Ihr Kind eine Störung entwickelt, weil es abends plötzlich Ängste hat. Das ist in solch ungewöhnlichen Zeiten aber normal und wird sich auch wieder beruhigen. Körperkontakt hilft da am meisten, beispielsweise die Kinder einfach mal mit im Elternbett schlafen lassen – auch, wenn das sonst nicht erlaubt ist. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Andere Anrufer haben Erziehungsfragen: Wie setze ich Grenzen? Was mache ich, wenn das Kind nur schreit? Andere sind überfordert und sagen „Ich schaffe es nicht mehr.“ Da geht es dann um Entlastung und emotionale Stabilisierung durch das Gespräch.
Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen sind geschlossen. Wie groß ist die Gefahr, dass Gewalt jetzt im Verborgenen passiert?
Wie viele Fälle häuslicher Gewalt es gibt, werden wir im Zweifel erst nach der Corona-Krise wissen, denn aktuell passiert sie tatsächlich oft im Verborgenen. Wenn Eltern auf Dauer überfordert sind, kann das brenzlig werden. Die soziale Kontrolle durch Freunde, Familie oder die Schule fehlt. In Frankreich beispielsweise sind die Anrufe bei Hilfetelefonen in letzter Zeit gesunken. Das ist nachvollziehbar, denn viele Betroffene können sich ja gar nicht melden: Der Täter sitzt im Zweifel die ganze Zeit neben ihnen.
Können Jugendämter, Beratungsstellen und Erziehungshilfen ihre Arbeit noch aufrechterhalten?
Die Jugendämter bleiben geöffnet, allerdings oft in einer Notbesetzung. Da, wo ein Schutzauftrag gegeben ist, gehen die Mitarbeiter natürlich auch noch in die Familien. Trotzdem wird generell viel übers Telefon geregelt, persönliche Besuche reduziert. Wer sich aktuell in einer Belastungssituation befindet, kann ich aber immer noch an Beratungsstellen wenden – auch anonym. Wir brauchen im Moment die Solidarität und den Mut, in Kontakt zu bleiben und zu fragen, wie es dem anderen geht. Die meisten freuen sich, wenn man Anteil nimmt. Auch als Nachbar kann ich aufmerksam sein und bei einer Familie direkt nachfragen, ob Hilfe gebraucht wird – oder mir im Notfall bei einer Beratungsstelle Tipps holen. Es ist manchmal schwierig, aber lebensnotwendig, für andere da zu sein.
Gibt es Notbetreuung für Kinder, die aktuell zum Schutz aus ihren Familien geholt werden müssen?
Ja, bei Gewalt werden Kinder nach wie vor aus ihren Familien genommen. Zusätzlich wird die Notbetreuung an Schulen, die eigentlich für Kinder von systemrelevanten Eltern gedacht ist, teilweise auch für den Kinderschutz benutzt – für Kinder, die nicht 24 Stunden zu Hause sein können.
Kriselnde Partnerschaften werden gerade auf eine harte Probe gestellt. Kinder bekommen das hautnah mit. Inwiefern beeinflusst sie das?
Die angespannte Atmosphäre macht viel aus: Eltern sind eigentlich dafür da, Kinder zu schützen. Wenn die beiden aber im Krieg miteinander sind, kann das eine Kinderwelt erschüttern und langfristige Folgen haben. Bei Gewalt beispielsweise gegen die Mutter gibt es viele Kinder, die es sich jahrelang nicht verzeihen können, dass sie nicht geholfen haben. Die Angespanntheit beispielsweise bei finanziellen Nöten sollte man mit den Kindern besprechen: „Das wird wieder gut – und Du bist nicht schuld daran!“
Welchen Rat geben Sie Familien in der aktuellen Situation mit auf den Weg?
Gnädiger mit sich selbst zu sein. Wir werden die Schulaufgaben nicht so hinkriegen wie im normal strukturierten Alltag, das ist aber okay. Familien sollten sich gemeinsam eine neue Struktur geben und überlegen: Wie schaffen wir das? Nicht so sehr auf die negativen Dinge blicken! Auch Lehrer sind unterschiedlich. Manche versuchen, den ganzen Stoff bis zum Sommer unterzubringen, andere melden sich so gut wie gar nicht. Da ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben und zu sagen: „Das schaffen wir nicht!“ Oder auch „Das ist zu wenig Material!“