Philippinen: „Quarantäne verschärft häusliche Gewalt an Kindern“
Interview: Simone Orlik
Ysrael C. Diloy aus den Philippinen ist auf den Themenbereich Kinderschutz spezialisiert. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, welche Gefahren die häusliche Quarantäne durch Covid-19 für Mädchen und Jungen mit sich bringt.
Gegenwärtig erlebt die Welt eine beispiellose Krise. Infektionsrisiko und Quarantänemaßnahmen haben die gesundheitliche und soziale Situation in vielen Ländern verschlechtert, vor allem für Kinder. Auch in den Philippinen?
Das überlastete Gesundheitssystem hat die Krankenhäuser des Landes gezwungen, ihre Ambulanzen zu schließen und die Bettenkapazität der Krankenhäuser drastisch zu verringern. Dies hat dazu geführt, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung für Nicht-Covid-19 -Fälle eingeschränkt ist. Die Quarantänemaßnahmen wirken sich in den Gemeinden auf das Familieneinkommen aus: Dadurch erhalten die Kinder weniger hochwertige Nahrung. Daneben schränken Schulschließungen und Quarantänemaßnahmen die Möglichkeiten von Familien ein. Davon sind 27 Millionen schulpflichtige Kinder im ganzen Land betroffen. Mädchen und Jungen haben kaum Zugang zu Freizeit- und Spielmöglichkeiten mit Gleichaltrigen. Die psychische Gesundheit ist in allen Altersgruppen gefährdet.
Sehen Sie eine Zunahme der Gewaltbereitschaft gegenüber Kindern in Zeiten von Covid-19?
Die Pandemie hat weniger neue Probleme verursacht, sondern bestehende Risiken verstärkt. In Asien gehören dazu kulturelle Überzeugungen und Praktiken wie die Tabuisierung rund um das Thema Sexualität als auch die Sexualität selbst dazu. Wir nennen das „eine Kultur des Schweigens“. Die Auswirkungen, verursacht durch die Covid-19-Pandemie, verstärken sich nun: Mädchen und Jungen werden zu Hause schneller zu Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs, sind häufig mit dem oder den potenziellen Tätern eingeschlossen. In den meisten Fällen handelt es sich um Väter oder Stiefväter. Üblicherweise erfahren Hilfspersonen wie Lehrer oder Schulberater im Schulalltag zuerst von den Übergriffen. Das ist wegen der Quarantänemaßnahmen nun nicht mehr möglich.
Aber natürlich lauert die Gefahr auch in häuslicher Gewalt selbst: Kinder werden als Eigentum oder als weniger menschliche Wesen betrachtet. Es kommt häufig zu körperlicher Bestrafung und einem Kreislauf familiärer Gewalt.
Die Armut verschärft diese Notlage aktuell…?
Geringere Einkommensmöglichkeiten in den Familien erhöhen nun das Risiko der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Denn die Familien befinden sich derzeit in einer Art Überlebensmodus, versuchen alles Mögliche, um ihre Familie ernähren zu können. Eine mögliche Konsequenz: Der Kinderschutz hat eine niedrigere Priorität. Beispiel Online-Live-Streaming: Weil Mädchen und Jungen jetzt noch mehr Zeit vor den digitalen Medien verbringen, erhöht sich die Gefahr unangemessener oder gar schädlicher Online-Inhalte und die mögliche Interaktion mit Online-Tätern. Aber auch Jugendliche, die sich in der Regel auf romantische Beziehungen mit Gleichaltrigen einlassen, haben aufgrund der Quarantäne nur begrenzte Möglichkeiten der körperlichen Interaktion. Deswegen suchen sie den Online-Austausch und tauschen intime Bilder, die möglicherweise fremdverwertet werden.
Gibt es dazu bereits Zahlen, welche die Entwicklung unterstreichen?
Leider liegen derzeit noch keine Daten vor, um die genaue Zahl der Fälle während der Quarantänezeit zu bestimmen. Frühere Pandemien oder Katastrophenfälle haben aber bereits gezeigt, dass sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern in solchen Situationen drastisch zunehmen.
Lassen sich Online-Medien während der Covid-19-Pandemie auch als Hilfsmittel nutzen?
Ja! Weil wir mit den Familien nicht direkt kommunizieren können, nutzen wir selbst umso mehr die sozialen Medien. Wir tauschen uns dort zum Thema Gewaltprävention aus oder teilen Informationen, wo man Zugang zu genauen Informationen über Covid-19 erhält. Unsere E-Learning-Maßnahmen zum Thema Kinderschutz sind für uns darüber hinaus eine große Hilfe. Hier erhalten Erwachsene und Kinder mitten in der Corona-Pandemie Zugang zu kostenlosen Veranstaltungen rund um Kinderschutz. Wir informieren die Menschen darüber, dass sie mehr darüber lernen können, auch wenn sie in ihren eigenen vier Wänden isoliert sind.
Unsere Online-Angebote finden Interessierte hier: www.elearning.stairwayfoundation.org und https://bit.ly/StairwayCyberSafeELearning .
Wie können Hilfsorganisationen Kinder in dieser Pandemie unterstützen?
Entwicklungsorganisationen, die direkt in den Gemeinden arbeiten, können während der Pandemie Fragen rund um Gewalt an Kindern mit folgenden Maßnahmen begegnen:
Gewaltprävention: Sie lässt sich vor allem über nicht-traditionelle Kanäle wie die sozialen Medien vermitteln. So sind die Familien besser in der Lage, eine sicherere Umgebung für Kinder zu schaffen; die Kinder lernen selbst, welches Verhalten richtig und falsch ist. Sofern der Zugang zur Technologie nicht möglich ist, müssen NGOs über andere Wege der Verbreitung nachdenken.
Aufdeckung und Meldung von Gewalt: Organisationen sind ein wichtiges Bindeglied zwischen offiziellen Meldesystemen und -strukturen und den Betroffenen. Kümmert sich eine NGO bereits konkret um eine Familie, haben Mitarbeiter es leichter, auf diese Weise potenzielle Missbrauchsfälle aufzudecken und bei der Weiterleitung an offizielle Kanäle zu unterstützen.
Lobbyarbeit für die Aufrechterhaltung von Kinderschutzmaßnahmen: Weil sich Regierungen im Moment im Krisenmodus befinden, besteht die Gefahr, dass der Schutz der Kinder kaum Priorität hat. Deswegen sollten Kinderrechtsorganisationen mit Regierungen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Kinderrechte und Kindesschutz in die Regierungsmaßnahmen im Rahmen von Covid-19 mit einbezogen werden.
Wissen Sie, wie sich die Gewalt an Kindern im gesamten asiatischen Raum in den vergangenen Wochen verändert hat?
Noch gibt es dafür zu wenige Daten. Aber Länder wie Thailand und Kambodscha haben ebenfalls bereits Befürchtungen geäußert, dass der Online-Missbrauch von Kindern aufgrund der Quarantäne zunimmt. In Südasien, vor allem in Indien, hat der Zugang zu Notfallnummern für Kinder und Jugendliche zugenommen.